Totenstarre  Jiang Shi sind scheußlich anzusehen: blass, fast blau, mit grässlichen Krallen, Augen und einem fürchterlichen giftigen Atem. Meist verfolgen sie ihre Opfer blindlings, später können sie sogar fliegen. Doch sie laufen nicht immer - manchmal hat die Totenstarre schon eingesetzt, und sie sind gezwungen, zu hüpfen. - Wikipedia

Totenstarre  (2)  «Das hier», sagte Konstabler Duncan, als der letzte Knoten sich ergab und unter dem Papier das «kleine Buch» zum Vorschein kam - ein ansehnlicher Band, zwanzig Zentimeter hoch, fünfzehn breit und entsprechend dick, «das hier heißt Gerichtsmedizin und Toxikologie, von Dixon Mann, und für einen in unserm Berrruf steht da eine Menge drin. Und da ist nun ein Absatz, über den ich gerrrn Ihre Meinung hören würde, Doktor. Ich hab doch ein Zettelchen an der Stelle reingetan - ach ja, da ist es. Seite 37. Das ist über die Todesstarre.»

«Rigor mortis», sagte der Doktor.

«Das ist gemeint, aber hier heißt es Lei-chen-star-re. Rigor mortis ist nur das Fremdworrrt dafür. Und nun schreibt hier dieser Mann, der ja sicher ein Experrrte ist, denn mein Vater hat eine Menge Geld für das Buch hingelegt - also, dieser Mann schreibt hier: ‹Unter normalen Umständen beginnt die Skelettmu-› o Gott! - ‹die Skelettmuskulatur vier bis zehn Stunden nach Eintritt des Todes zu errrstarrren.› Vier bis zehn Stunden. Das gibt uns aber doch sozusagen sechs Stunden Spieirrraum, um die wir uns schon mal irren können. Ist das rrrichtig, Doktor?»

«Unter sonst gleichen Voraussetzungen», sagte der Doktor, «ja.»

«Eben. Und hier weiter: ‹Voll entwickelt ist sie› - gemeint ist die Starre, klar? - ‹nach zwei bis drei Stunden.› Das gibt also noch mal einen Spielraum von einer Stunde.» «Nun ja.»

«So. ‹Dieser Zustand dauert über einen Zeitraum zwischen einigen Stunden und sechs bis acht Tagen an.> Das ist ja nun mächtig ein Unterschied, nicht wahr, Doktor?»

«Stimmt», sagte Dr. Cameron mit feinem Lächeln, «aber es gilt ja neben der rigor mortis noch so einiges andere in Betracht zu ziehen. Sie werden nicht sagen wollen, die Leiche sei sechs bis acht Tage alt gewesen?»

«Natürrrlich nicht, Doktor. Aber hier steht weiter: ‹24 bis 48 Stunden können als durchschnittliche Dauer der Leichenstarre angesehen werden.› Sie sehen vielleicht schon, daß diese große Kapazität sich nicht so ganau auf zwei, drei Stunden festlegt. Also, Doktor, als Sie die Leiche um drei Uhr nachmittags gesehen haben, wie steif war sie da?»

«Ziemlich steif», antwortete der Doktor. «Das heißt, um es in der Terminologie Ihrer großen Kapazität auszudrücken, die Leichenstarre war voll entwickelt. Das machte es wahrscheinlich, daß der Mann seit mindestens sechs Stunden tot war, wahrscheinlich aber - wenn man das Aussehen seiner Verletzungen mit berücksichtigt - sehr viel länger. Wenn man Mr. Dixon Manns Feststellungen zur Grundlage der Diagnose macht, sehen Sie demnach, daß der Tod sogar schon dreizehn Stunden früher eingetreten sein kann - zehn Stunden bis zum Beginn der Starre, weitere drei Stunden bis zu ihrer vollen Entwicklung. Das heißt, der Tod könnte erst um neun Uhr vormittags oder bereits um Mitternacht eingetreten sein, und die Leiche wäre in beiden Fällen nachmittags urn drei Uhr steif gewesen, ohne daß man unbedingt eine Anoma-lität bei der Einsetzung oder Entwicklung der rigor mortis annehmen müßte.».

«Ja, aber -» begann MacPherson schnell. «Ja, das ist doch genau, was ich -» begann Duncan. «Einen Moment», sagte der Doktor. «Ich weiß, was Sie sagen wollen, Inspektor. Sie meinen, ich lasse die Möglichkeit außer acht, daß die Leichenstarre schon seit einiger Zeit voll entwickelt war, als ich den Toten zum erstenmal sah. Angenommen, die Starre hat sich langsam entwickelt und war schon um ein Uhr voll da, dann wäre es möglich, daß der Tod schon um zehn Uhr abends eingetreten ist. Wie ich Ihnen schon einmal sagte, unmöglich ist das nicht.»

MacPherson grunzte zufrieden.

«Campbell war ein Mann von strotzender Gesundheit», fuhr der Doktor fort, «und ist durch plötzliche äußerliche Gewaltanwendung gestorben. Wenn Sie bei Ihrer Kapazität ein bißchen weiter hinten nachschlagen, Duncan, werden Sie dort lesen, daß unter diesen Bedingungen die rigor mortis meist langsam einsetzt.» «Das schon, Doktor», beharrte der Konstabler, «aber da steht auch, wenn der Betrrreffende erschöpft und nicht im Vollbesitz seiner Körrrperkrrräfte ist, kann die Starre sehr schnell eintreten. Nun hab ich mir gedacht, daß dieser Campbell doch einen sehr anstrengenden Abend hinter sich gehabt haben muß. Erst hat er sich so gegen neun Uhr mit Mr. Waters geprügelt, dann hat er sich um Viertel vor zehn mit Mr. Gowan geprügelt, und außerdem war er bis oben voll mit Whisky, dessen entkrrräftende Wirkung ja bekannt ist - das heißt», fügte er rasch hinzu, als er Wim-sey grinsen sah, «nachdem die anfängliche Hochstimmung abgeklungen ist. Dann ist er früh am Morgen rrraus, ohne Frühstück, wie sich bei der Untersuchung seiner Innereien rausgestellt hat, und ist mit seinem Wagen 27 Meilen weit gefahren. Ob der nach alldem nicht erschöpft genug war, um ganz schnell steif zu werden, nachdem er errrmorrrdet wurrrde?»

«Sie scheinen sich ja gründlich Gedanken gemache zu haben, Duncan», sagte der Doktor. «Ich sehe, ich muß mich vorsehen, sonst erwischen Sie mich noch. Ich will nur das eine sagen. Die durchschnittliche Dauer der rigor mortis liegt zwischen 24 und 48 Stunden. Campbeils Leiche war starr, als ich sie am Dienstagnachmittag um drei zum erstenmal sah, und sie war am Mittwochabend noch steif, als sie eingesargt wurde. Am Donnerstag, als ich sie in Anwesenheit einiger von Ihnen, meine Herren, untersuchte, war die Starre völlig abgeklungen. Das ergibt eine einigermaßen durchschnittliche Dauer der Starre. Im allgemeinen folgt auf ein rasches Einsetzen eine kurze Dauer, auf ein langsames Einsetzen eine lange Dauer. Im vorliegenden Fall war die Dauer durchschnittlich bis lang, und ich folgere daraus, daß auch das Einsetzen durchschnittlich bis lange gedauert hat. Aus diesem Grund bin ich schließlich zu dem wohlüberlegten Urteil gelangt, daß der wahrscheinlichste Todeszeitpunkt irgendwo um Mitternacht herum gelegen hat, was auch mit dem allgemeinen Erscheinungsbild der Leiche und ihrer Verletzungen übereinstimmte.»

«Wie steht es mit dem Mageninhalt?» fragte Sir Maxwell.

«Der Mageninhalt bestand aus Whisky», meinte der Arzt trok-ken, «aber ich will mich nicht darauf festlegen, wie lange der Verstorbene am Montagabend wohl noch Whisky getrunken hat.»

«Aber», sagte Duncan, «wenn der Mord nun doch erst am Dienstag um neun begangen wurde, verkürzt das doch die Dauer der Starre.»

«Ja, natürlich», gab der Arzt zur Antwort. «Wenn er erst am Montag früh gestorben ist, verkürzt das die Dauer der rigoY mortis auf etwas über 36 Stunden. Ich kann mich nur auf die Zeit zwischen Dienstag 15 Uhr und Mittwoch 19 Uhr beziehen, als ich den Toten dem Leichenbestatter übergab.»

«Nun, die Frage scheint ja wohl die zu sein», sagte der Staats-anwalt, «ob Sie sich, obwohl die Anzeichen auf einen Todeszeitpunkt um Mitternacht hindeuten, um eine Stunde nach oben oder unten geirrt haben könnten.»

«Durchaus.»

«Könnten Sie sich auch um acht bis neun Stunden geirrt haben?»

«Das würde ich nicht annehmen», antwortete der Doktor vorsichtig, «aber ich würde es auch nicht als unmöglich bezeichnen. In der Natur sind nur wenige Dinge unmöglich, und zu denen gehört nicht die irrtümliche Diagnose.»  - Dorothy L. Sayers, Fünf falsche Fährten (The Five Red Herrings). Reinbek bei Hamburg 1980  (zuerst 1931)

 

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