igerjagd   Kaum hatte der Tiger die angebundene Ziege erblickt, legte er sich auch schon flach auf den Erdboden - anscheinend jedoch weniger, um sich zu seinem eigenen Vorteil möglichst unsichtbar zu machen, als vielmehr, um sich vor Beginn des Raubzuges noch etwas auszuruhen.

»Ich glaube, er ist krank«, sagte Miss Mebbin laut auf hindustanisch, so daß der Bürgermeister des Dorfes, der sich auf einem benachbarten Baum versteckt hatte, sie auch verstehen konnte.

»Pst!« zischte Mrs. Packletide nur - und im gleichen Augenblick machte sich der Tiger daran, seine Beute anzugreifen.

»Jetzt — los!« flüsterte Miss Mebbin aufgeregt. »Wenn er die Ziege nicht angerührt hat, brauchen wir sie auch nicht zu bezahlen!«

Der Köder wurde gesondert berechnet.

Die Mündung des Büchsenlaufs blitzte donnernd auf; die große gelbe Raubkatze schnellte zur Seite - und rollte dann in die Ruhe des Todes. Kaum einen Augenblick danach hatte ein Haufe begeisterter Eingeborener den Schauplatz überschwemmt, und das Geschrei verkündete dem ganzen Dorf die frohe Botschaft, so daß sich auch die großen Trommeln dem Triumphgesang beigesellten. Dies alles fand in Mrs. Packletide ein bereitwilliges Echo; die festliche Abendgesellschaft in der Curzon Street war in greifbare Nähe gerückt.

Louisa Mebbin war es, die die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkte, daß die Ziege auf Grund einer tödlichen Schußverletzung in den letzten Zügen lag, während man an dem Tiger keine Spur einer todbringenden Kugel entdecken konnte. Offensichtlich war das falsche Tier getroffen worden, während die Raubkatze einem Herzanfall erlegen war - ausgelöst durch den Knall der Büchse, verursacht durch Altersschwäche. - Saki, Die offene Tür. Zürich 1973 (Zeichnungen von Edward Gorey)

Tigerjagd (2)  Zur Tigerjagd ist es nicht einmal nötig, nach Indien zu reisen. Die Welt ist voll von Tigern. Man findet sie überall: In der Küche, im Kino, im Restaurant. Man sieht sie arbeiten, man sieht sie trinken, man hört sie singen, ja man trifft sie sogar irgendwo im Park, -wo sie auf einer Bank sitzen und gähnen. Es ist überhaupt nicht schwer, sie zu finden. Wenn wir also im Prinzip imstande sind, sie zu entdecken, sollten wir es am besten gleich mit einer schnörkellos direkten Frage probieren. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Neulich verließ ich das Haus, und als ich um die Ecke bog, stieß ich auf einen blinden Violinspieler. Ich fragte ihn, ob er ein Tiger sei, und der Blinde lächelte und verneinte. »Schauen Sie her«,  demonstrierte er,  »keine einziehbaren Krallen, keine Reißzähne, kein Schwanz.« Diese Antwort fiel keineswegs zu meiner Zufriedenheit aus. »Kommen Sie, spielen Sie hier nicht den Schlaumeier«, sagte ich, »mich können Sie nicht hinters Licht führen. Ich habe Informationen, die besagen, daß Sie ein verkleideter Tiger sind.«

Ich knöpfte seinen Mantel auf, zerriß sein Hemd und entdeckte die Streifen auf seiner Haut. Der Blinde brach in Tränen aus und bat mich um Entschuldigung, aber kaum hatte ich ihm den Rücken zugewandt, um einen Polizisten herbeizurufen, haute er mir seine Violine über den Kopf. Ich wollte ihn festhalten, aber er entwischte mir, ging kurz in die Knie und sprang dann mit einem Satz auf den dicken Ast eines Baums. Jetzt kam der Polizist. »Der Alte da oben ist ein Tiger«, sagte ich. »Jedenfalls handelt es sich um einen alten Tiger«, korrigierte mich der Polizist und lächelte nachsichtig. »Ein uralter Tiger, dem bereits die Reißzähne ausgefallen sind. Es hat keinen Sinn mehr, ihn in den Zoo zu bringen. Die Leute, die hier im Park Spazierengehen, werden in diesem Menschen ein unschuldiges Motiv zur Zerstreuung finden.« 

Und dabei ist es geblieben. Der Anblick lohnt sich. Dem Alten ist inzwischen die Sonnenbrille heruntergefallen und in seinen goldenen Pupillen glimmt ein unheimliches Leuchten. - Javier Tomeo, Zoopathologie. Berlin 1994 (zuerst 1992)

Tigerjagd (3)  Konrad vom Megenberg sieht sie im 14. Jahrhundert etwa so: «Die Tiere sind gar grimmig, und wenn die Jäger sie ihrer Kindel beraubt haben, so können die Jäger zuweilen nicht fliehen, darum werfen sie gläserne Täfelchen hinter sich, wie Ambrosius spricht. Wenn dann die Tiere darankommen und die Spiegel ansehen, so glauben sie, ihre Kinder sitzen da, und sie stellen sich über die Spiegel und küssen die und umarmen sie. Zuletzt treten sie auf die Spiegel und scharren, doch sie finden nichts. In der Zeit können die Jäger fliehen.» Andere Autoren  reden in diesem Zusammenhang von Glaskugeln, die der Tigerin zugeworfen werden: Sie erblickt sich darin selbst, meint, da sei ihr Kind, und wird so von der Verfolgung des Jägers abgelenkt.    - Nach (schen)
 
 

Tiger Jagd

 

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