Schwulenstadt   Es sind 175er - homosexuelle KZ-Insassen. Sie sind vom Lager Dora in Nordhausen aus nach Norden gezogen, immer nach Norden, bis das Festland endete, und haben hier zwischen der Marsch und der Odermündung eine männliche Gemeinde gegründet. Normalerweise entspräche so was Thanatzens Vorstellung vom Paradies - nur, daß keiner dieser Männer es ertragen kann, nicht mehr in Dora zu sein: Dora war ihre Heimat, und nun sind sie krank vor Heimweh. Ihre «Befreiung» war eine Verbannung. Also haben sie sich hier, an ihrem neuen Standort, eine eigene imaginäre SS-Hierarchie installiert. Nicht länger darauf angewiesen, wen ihnen das Schicksal als Schergen zuteilte, sind ihnen hier, vom Schutzhäftlingsführer bis zum Blockführer, eine Reihe von ganz ausgesucht gemeinen Nazi-Spielgefährten gelungen, und auch für sich selbst als Insassen haben sie die interne Hierarchie nicht vergessen: Lager- und Blockältester, Kapo, Vorarbeiter, Stubendienst und Läufer (der zwar ein Bote ist, doch seinen Namen mit dem «Offizier» des Schachspiels teilt... wer ihn einmal gesehen hat, am frühesten Morgen über die feuchten Wiesen laufend, die flatternde, auffliegende rote Robe zwischen den sumpfigen Hügeln fast bis zur Farbe von Baumrinden verdunkelt, der wird eine Ahnung von seiner wirklichen Bestimmung in dieser Gemeinschaft gewonnen haben: er ist ein Träger von heiligen Strategien, von Memoranden des Gewissens, und wenn er über die schilfige Niederung des Morgens näher kommt, so packt es euch bei den Schlafittchen und streift euch mit dem Windhauch eines Großen Augenblicks - denn der Läufer ist der Geheiligtste hier, er ist es, der die Botschaften hinausträgt an die verderbenbringende Grenzfläche zwischen dem sichtbaren Lager und der unsichtbaren SS). - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981
 

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