Jean
Baudrillard
Befreiung (2) Es lag augenscheinlich
mehr an der Bestechlichkeit der Gefängnisaufseher als an irgendeinem Mangel
im Bau der Gefängnisse, wenn die Verhafteten bei passenden Gelegenheiten entflohen,
ein Fall, der durchaus nicht selten gewesen zu sein scheint. Selbst denjenigen,
die in Ketten eingeschlossen waren, gelang es bisweilen, sich zu befreien. Freilich
ein noch wirksameres Mittel, um die Unglücklichen von den Schrecknissen dieser
modrigen Gefängnisse zu befreien, war der Tod, der in diesen übelriechenden,
nicht gelüfteten, mit Unrat angefüllten Räumen unumschränkt herrschen konnte.
Wohl gab es gelegentlich Unglückliche, die, wie wir gesehen haben, die lange
Kerkerhaft überstehen konnten; so wird z.B. eine Frau zum Kreuztragen begnadigt,
nachdem sie 33 Jahre lang in den Gefängnissen von Toulouse gelegen hatte.
- Henry
Charles Lea, Die Inquisition. Hg. Joseph Hansen. Frankfurt am Main 1985 (Die
Andere Bibliothek 6, zuerst 1887)
Befreiung (3) Ich klaubte den Hunden
Flöhe und den Betteljungen die Läuse
von den Köpfen und Kleidern, solche tat ich in ein Schächtlein zusammen und
streuete sie hernachmals auf meines Praeceptors Kleider
und seinen Mantel. Wenn er nun also bei uns über Tisch saß, so ist nicht zu
sagen, wie abscheulich ihm alsdann die Läuse hin und wider auf der Achsel herumgekrochen,
ja, meine Frau Mutter hat sich oftermalen darüber so sehr entsetzet, daß sie
von dem Essen weggehen müssen. Und weil ihn männiglich vor einen Lausebalg gehalten,
gab ihm der Vater seinen Abschied, und ich bekam dadurch meine vorige Freiheit,
mit dem Jäger hinzugehen, wo mir beliebte, ob ich schon kaum so viel gelernet,
daß ich meinen Namen recht schreiben konnte. - Johann Beer, Die teutschen Winter-Nächte & kurzweiligen
Sommer-Täge. Frankfurt am Main 1985 (it 872, zuerst 1682, Hg. Richard Alewyn)
Befreiung (4) Jedesmal war es für ihn ein befreiendes
Gefühl, wieder unten aus dem Haus herauszukommen und sich einzufügen in die
anderen Geräusche und Bewegungen, den Verkehr, die
Leute, beschäftigt mit genauen Zielen, Aufgaben, die zu erledigen waren. Er
hatte Zeit und konnte darin herumgehen, sich das ansehen,
das Geschiebe, die Geräusche hören. Wagen, Leute, von alledem er sich wie von
etwas Sicherem umgeben fühlte, das immer da war, eine feststehende Ordnung aus
Geschäftszeiten, offenen Kaufhäusern, den einzelnen Ständen in den Hallen mit
genau abgeteilten Waren, alles voll, aufgehäuft. - (
brink
)
Befreiung (5) Scottie Ferguson, ein ehemaliger Kriminalbeamter, der wegen seiner Akrophobie (Höhenangst) den Dienst quittieren mußte, bekommt von Gavin Elster, einem alten Freud, den Auftrag, dessen Frau Madeleine zu beschatten, deren eigenartiges Verhalten Selbstmordabsichten befürchten läßt.
Nach und nach verliebt sich Scottie immer mehr in die Frau, die er beobachtet. Als sie sich zu ertränken versucht, rettet er sie, aber als sie sich bald darauf von einem Kirchturm zu stürzen droht, kann er sie wegen seiner Krankheit nicht daran hindern. Von Schuldgefühlen gequält, hat Scottie einen Nervenzusammenbruch. Mit der Hilfe einer alten Freundin, Midge, findet er allmählich ins normale Leben zurück. Eines Tages begegnet er auf der Straße einer Doppelgängerin Madeleines, die behauptet, sie heiße Judy Barton. In Wahrheit ist sie selbst Madeleine, die zur Zeit ihrer ersten Begegnung nicht Elsters Frau, sondern seine Geliebte war.
Ihr angeblicher Tod gehörte zu dem Plan, nach dem sie die wirkliche Ehefrau töteten: die beiden Komplizen hatten ihre Ermordung so inszeniert, daß Scottie davon überzeugt war, den Selbstmord von Mrs. Elster beobachtet zu haben.
Als Scottie schließlich Verdacht schöpft, bringt er Judy, um sie zu einem
Geständnis zu bewegen, wieder zu dem Kirchturm und zwingt sich, mit ihr hinaufzusteigen.
Das angsterfüllte Mädchen rutscht aus und stürzt diesmal
wirklich zu Tode. Er ist nicht glücklich, aber wenigstens befreit. - Nach:
François Truffaut,
Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973 (zuerst 1966)
Befreiung (6) Ein heftiges Rütteln weckte mich. Ich schlug die Augen auf und erblickte über mir mehrere Köpfe von Mikrozephalen, die, nunmehr auf zwei Beinen, über mich gebeugt standen und sich lärmend unterhielten, während sie mit großem Interesse meine Arme hin und her bewegten; als ich Widerstand zu leisten versuchte, hätten sie mir die Arme beinahe aus den Gelenken gerissen. Der größte unter ihnen, ein lilafarbener Hüne, öffnete mir gewaltsam den Mund, steckte seine Finger hinein und begann meine Zähne zu zählen. Vergebens suchte ich mich zu wehren - ich wurde auf die Lichtung getragen und am Heck der Rakete angebunden. In dieser Lage mußte ich zusehen, wie die Mikrozephalen alles mögliche aus der Rakete herausschleppten; sperrige Gegenstände, die sich nicht durch die Lukenöffnung zwängen ließen, schlugen sie zuvor kurz und klein. Mit einem Mal brach ein Steinhagel über die Rakete und die geschäftigen Mikrozephalen herein; ich selbst wurde am Kopf getroffen. Gefesselt, vermochte ich nicht in die Richtung zu schauen, aus der die Geschosse herflogen. Ich hörte nur Kampflärm. Endlich ergriffen meine Bezwinger die Flucht. Andere Mikrozephalen liefen herbei, befreiten mich von den Fesseln und trugen mich auf den Schultern unter Beweisen hoher Wertschätzung in den Wald.
Die feierliche Prozession hielt am Fuße eines weitausladenden Baumes, von dessen Ästen ein Luftzelt mit Fensterchen an Lianen herunterhing. Man schob mich durch das kleine Fenster hinein, daraufhin fiel die unter dem Baum versammelte Menge auf die Knie und hob an zu psalmodieren. Ganze Reihen von Mikrozephalen brachten mir Blumen- und Früchteopfer dar. In den folgenden Tagen wurde ein Kult mit mir getrieben: Die Priester lasen aus meinem Mienenspiel die Zukunft, und wenn es ihnen Unheil zu verkünden schien, beweihräucherten sie mich so sehr, daß ich beinahe erstickte. Zum Glück schaukelte der Priester bei der Darbringung der Brandopfer meine kleine Kapelle, so daß ich von Zeit zu Zeit ein wenig Luft schnappen konnte.
Am vierten Tage wurden meine Anbeter von einer keulenbewehrten Schar Mikrozephalen
unter Führung des Riesen, der seinerzeit meine Zähne gezählt hatte, überfallen.
Im Laufe des Kampfes ging ich von Hand zu Hand, wurde so abwechselnd Gegenstand
der Anbetung und der Verachtung. Die Schlacht endete mit einem Sieg der Aggressoren,
deren hühnenhafter Anführer Wurmflug hieß. An eine Stange gebunden, die von
Verwandten des Recken getragen wurde, nahm ich an seiner triumphalen Heimkehr
ins Lager teil. Mich so zu transportieren bürgerte sich hernach ein; seitdem
war ich eine Art Standarte, die auf allen Kriegszügen vorangeschleppt wurde.
Das war für mich beschwerlich, dafür aber mit gewissen Vorrechten verknüpft.
- (
lem
)
Befreiung (7) In einer Nacht werden von unbekannter Hand die Käfigschlösser des Prater-Zoos gesprengt, wodurch eine weitere Anzahl von Tieren die Freiheit findet. Lamas, Zwergziegen und Steinböcke, Füchse, Silberlöwen, Nasen- und Braunbären atmen einmal kräftig durch, dann trennen sich ihre Wege. Dasselbe tun japanische Seeschwalben und Kakadus, Aras, Fasane und Pfauen, Adler, Bussarde und Geier. Der Großteil der klimaempfindlichen Tiere, Amphibienartige und tropische Vögel, Chamäleone und daumengroße Pinseläffchen verenden auf dem Weg zum Planetarium. Eine Riesenpython, der Verdauung wegen zur Unbeweglichkeit verurteilt, bleibt in ihrem Käfig. Die Tiere aus dem Zoo sind, weil zahlenmäßig unterlegen, nicht imstande, eigene Gemeinschaften von Bedeutung zu bilden. Sie müssen sich daher verwandten Gattungen heimischer Tiere anschließen, wenn sie nicht ein Außenseiterdasein führen wollen. Eine Gruppe von acht Pumas, ein älteres Paar mit sechs aus drei aufeinanderfolgenden Würfen stammenden Jungen, stärkt den Feliden gewaltig den Rücken.
Nun tun es auch die letzten im Prater heimischen Berufsgruppen, Huren, Zuhälter
und Galeristen, den Langläufern, Pferdeburschen, Schaustellern und Gastwirten
gleich und verlassen das Gebiet zwischen Donau und Donaukanal, Wenn sie auch
bei den Equiden, Caniden und Corviden, die die mächtigsten Gruppen bilden, mit
Schonung rechnen durften, mit den Großkatzen ist nicht zu scherzen. Au contraire,
nach so langer Haft sind sie besonders geil darauf, alles, was auf zwei Beinen
und aufrecht läuft, zu knicken und zu knacken. - Barbara Frischmuth,
Die unbekannte Hand. In: (
schrec
)
Befreiung (8) Der Zauberer ward mit seiner Frau und seinem Sohn zugleich ergriffen. Man sperrte sie in hölzerne Käfige, um sie nach der Hauptstadt abzuliefern.
Der Weg führte durch ein Gebirge. Mitten im Gebirge kam ein Riese, der war so groß wie ein Baum, hatte Augen wie Tassen, ein Maul wie eine Schüssel und fußlange Zähne.
Die Krieger standen zitternd da und wagten sich nicht zu rühren.
Der Zauberer sprach: „Das ist ein Berggeist. Meine Frau kann ihn in die Flucht schlagen."
Man tat, wie er gesagt, und befreite die Frau von ihren Banden. Die Frau nahm einen Speer und ging ihm entgegen. Aber der Riese wurde wild und verschlang sie mit Haut und Haar. Alle gerieten darob nur noch mehr in Furcht.
Der Zauberer sprach: „Hat er mir die Frau umgebracht, so muß mein Sohn dran."
Nun ließ man auch den Sohn heraus. Aber auch er ward gleichermaßen verschlungen. Alle sahen ratlos zu.
Der Zauberer weinte vor Zorn und sprach: „Erst hat er mir die Frau umgebracht und nun den Sohn; würde es ihm doch heimgezahlt! Aber außer mir kann's keiner."
Und richtig nahmen sie auch ihn aus seinem Käfig heraus, gaben ihm ein Schwert und schickten ihn vor. Der Zauberer und der Riese kämpften eine Zeitlang miteinander. Schließlich packte der Riese den Zauberer, steckte ihn in den Rachen, reckte den Hals und schluckte ihn hinunter. Dann ging er wohlgemut davon.
Die Soldaten aber merkten zu spät, welchen Streich ihnen der Zauberer
gespielt hatte. - (
chm
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