itual   Das allumfassende Gesetz der stellvertretenden Muße herrscht auch in den äußerlichen Einzelheiten der religiösen Kulthandlungen und soll nur der Klarheit halber erwähnt werden. Jedes Ritual neigt dazu, zu einer Wiederholung bloßer Formeln zu werden. Diese Entwicklung zum Formelhaften zeigt sich am deutlichsten in den älteren Kulten, deren Priester in Leben und Kleidung gleichzeitig besonders enthaltsam, schmuckvoll und streng sind, doch tritt sie auch in den religiösen Formen und  Riten neuerer Sekten in Erscheinung, die hinsichtlich der Priester, Kleider und Gotteshäuser weniger hohe Ansprüche stellen. Wenn der Kult älter wird und sich allmählich festigt, so wird auch der Gottesdienst (der Ausdruck Gottesdienst ist übrigens für unseren Zusammenhang sehr aufschlußreich) dank den ewig sich wiederholenden Proben immer oberflächlicher, was jedoch dem wahrhaft frommen Gemüt angenehm und gefällig erscheint. Und dies nicht ohne Grund, denn gerade die Oberflächlichkeit des Gottesdienstes weist deutlich darauf hin, daß sich der Herr, dem der Dienst geweiht ist, weit über das gemeine Bedürfnis eigentlich nützlicher Dienstleistungen erhebt. Seine Diener sind nutzlos, und gerade dieser Umstand gereicht dem Herrn zur Ehre, weshalb wir kaum auf die enge Verwandtschaft zwischen dem Amt des Priesters und demjenigen des Lakaien hinzuweisen brauchen. Unserem Gefühl für das Schickliche gefällt in beiden Fällen das Oberflächliche und Formelle. Der Priester sollte bei der Ausübung seines Amtes weder Begabung noch Geschick zeigen, woraus nur allzu leicht eine gewisse Neigung zur Arbeit abgeleitet werden könnte. - Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute.  Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. München 1971 (zuerst 1899)

Ritual (2)  Als Wildbeuter und Sammler sind die Aborigines auf das Funktionieren der Naturabläufe wie auch auf den festen sozialen Zusammenhalt angewiesen. Für beides haben sie ihre beschwörenden Rituale; haben diese nicht den gewünschten Erfolg, so schreibt man es einem Fehler in der Ausführung zu. - Nachwort zu: Märchen aus Australien. Traumzeitmythen der Aborigines. Hg. Anneliese Löffler. München 1992

Ritual (3)   Federico befremdeten Leute, die fähig waren, im Sitzen einzuschlafen, er beneidete sie nicht einmal: für ihn setzte das Einschlafen im Zug ein minuziöses Ritual voraus, aber gerade darin bestand das schwierige Vergnügen seiner Reisen.

Als erstes mußte er die gute Hose gegen eine gewöhnliche auswechseln, um nicht ganz zerknittert anzukommen. Diese Handlung mußte in der Toilette vorgenommen werden; aber vorher - um mehr Bewegungsfreiheit zu haben - war es besser, die Schuhe mit den Pantoffeln zu vertauschen. Federico nahm die Alltagshose aus der Reisetasche, den Beutel mit den Pantoffeln, zog die Schuhe aus und die Pantoffeln an, verbarg die Schuhe unter dem Sitz, ging zur Toilette, um die Hose zu wechseln. »Je voyage toujours!« Er kam zurück, brachte die gute Hose so auf dem Gepäcknetz unter, daß sie die Bügelfalte nicht verlor. »Tralala-la!« Er legte das Kissen ans obere Ende des Sitzes auf der Seite des Korridors, weil es besser war, durch das schroffe Geräusch sich öffnender Türen geweckt, als beim Erwachen plötzlich geblendet zu werden. »Du voyage, je sais tout!« Auf das andere Ende des Sitzes legte er eine Zeitung, weil er sich nicht unbeschuht, sondern in Pantoffeln hinlegte. An einem Haken oberhalb des Kissens hängte er die Jacke auf, steckte Geldbeutel und Brieftasche in die Jackentasche, weil sie ihm im Liegen in der Hosentasche unbequem gewesen wären. Die Fahrkarte dagegen verwahrte er in dem Täschchen unter dem Gürtel. »Je sais bien voyager...« Er tauschte den guten Pullover gegen einen alten aus; das Hemd würde er am nächsten Morgen wechseln. Der Vertreter, der erwacht war, als Federico ins Abteil zurückkam, verfolgte sein Herumwirtschaften etwas verständnislos. »Jusqu' à mon amour...« Er legte die Krawatte ab und hängte sie auf, nahm die Stäbchen aus dem Hemdkragen und steckte sie in eine Jackentasche, zusammen mit dem Geld... »... j'arrive avec le train!« Er legte die Hosenträger (wie alle Männer, denen es nicht in erster Linie um äußere Eleganz geht, trug er Hosenträger) und die Sockenhalter ab, öffnete den obersten Hosenknopf, damit er ihn nicht auf den Bauch drückte. »Tralala-la!« Über den Pullover zog er nicht mehr die Jacke, sondern den Überzieher, nachdem er die Hausschlüssel aus der Tasche genommen hatte,- dagegen behielt er die kostbare Telefonmünze mit dem gleichen sehnsüchtigen Fetischismus zurück, mit dem Kinder ihr Lieblingsspielzeug unter das Kopfkissen legen. Den Überzieher knöpfte er ganz zu, schlug den Kragen hoch; wenn er sich ein wenig in acht nahm, konnte er darin schlafen, ohne daß eine Falte zurückblieb. »Maintenant voilà!« Im Zug zu schlafen bedeutete, mit glatten Haaren aufwachen zu müssen, weil man womöglich am Bahnhof ankam, ohne noch Zeit für einen Strich mit dem Kamm zu haben; deshalb stülpte er sich eine Baskenmütze auf den Kopf. »Je suis prêt, alors!« Er schwankte in dem Überzieher durch das Abteil, der ohne die Jacke wie ein Priestergewand an ihm herabhing, spannte die Vorhänge über die Türe, indem er sie so weit herunterzog, bis sie mit den ledernen Knopflöchern die Metallknöpfe erreichten. Er deutete eine Bewegung gegen den Reisegefährten an, wie um ihn um Erlaubnis zu bitten, das Licht zu löschen: der Vertreter schlief. Im blauen Halbdunkel der Sicherheitslampe schlich er noch hinüber, um die Fenstervorhänge zu schließen oder vielmehr halb zu schließen, denn hier ließ er immer einen Spalt offen: es gefiel ihm, am Morgen durch einen Sonnenstrahl geweckt zu werden. Noch eine Handlung: die Uhr aufziehen. So, nun konnte er sich hinlegen. Mit einem Ruck hatte er sich waagrecht auf den Sitz geworfen, in Seitenlage, den Überzieher glatt, die Beine darin angezogen, die Hände in der Tasche, die Telefonmünze in der Hand, die Füße - immer in den Pantoffeln - auf der Zeitung, die Nase im Kissen, die Mütze über den Augen. Nun würde er, mit einem genußvollen Entspannen seiner ganzen fieberhaften inneren Aktivität, dem kommenden Morgen entgegenschlafen. - Italo Calvino, Abenteuer eines Reisenden. München 1988 (dtv 10961)

Ritual (4)   Vor mir, auf den morschen Überresten eines riesigen gestürzten Baums, hockten, noch ohne meine Nähe zu ahnen, drei groteske menschliche Gestalten. Eine war offenbar weiblich. Die beiden anderen waren Männer. Sie waren nackt, bis auf scharlachfarbene Tuchbinden um die Mittelpartie, und ihre Haut war von stumpfer, rötlichgrauer Farbe, wie ich sie noch bei keinem Wilden gesehen hatte. Sie hatten volle, grobe Gesichter ohne Kinn, fliehende Stirnen und spärliches, borstiges Haar auf den Köpfen. Nie hatte ich bestialischer aussehende Geschöpfe gesehen.

Sie sprachen, oder wenigstens einer der Männer sprach zu den beiden anderen, und alle drei waren zu vertieft gewesen, um auf das Rascheln zu achten, als ich näher kam. Sie wiegten Kopf und Schultern. Die Worte des Sprechers sprudelten rasch und schlampig hervor, und obgleich ich sie deutlich hören konnte, konnte ich nicht verstehen, was der Mann sagte. Er schien mir ein kompliziertes Rotwelsch zu sprechen. Plötzlich wurde seine Artikulation schriller; er breitete die Hände aus und erhob sich.

Da begannen die anderen im Chor einzufallen, während sie gleichfalls aufstanden, die Hände ausbreiteten und sich im Rhythmus ihres Singsangs hin und her wiegten. Mir fiel die abnorme Kürze ihrer Beine und die Schwerfälligkeit ihrer Füße auf. Alle drei begannen sich langsam im Kreis zu bewegen und mit den Füßen zu stampfen und die Arme zu schwingen; eine Art Melodie schlich sich in ihre rhythmische Rezitation, und ein Refrain war herauszuhören - er klang etwa wie »Alula« oder »Balula«. Ihre Augen begannen zu funkeln, und ihre häßlichen Gesichter erhellten sich und zeigten den Ausdruck einer unheimlich wirkenden Freude. Aus ihren lippenlosen Mündern tropfte Speichel.  - H. G. Wells, Die Insel des Dr. Moreau. München 2009 (zuerst 1896)

Ritual (5)  Beim Seppuku schnitt sich der im Seiza sitzende Mann nach Entblößung des Oberkörpers mit der in Papier gewickelten und zumeist speziell für diesen Anlass aufbewahrten Klinge eines Wakizashi den Bauch ungefähr sechs Zentimeter unterhalb des Bauchnabels in der Regel von links nach rechts mit einer abschließenden Aufwärtsführung der Klinge auf. Dem Daoismus zufolge liegt hier das sogenannte untere Tanden (chin. Dantian), ein Bereich im Hara (Unterbauch), der in der Traditionellen Chinesischen Medizin als wichtigstes energetisches Zentrum des Menschen angesehen wird, im Zen auch die Hauptflussader des Ki.

Da der Bauchanteil der Aorta (Hauptschlagader) unmittelbar vor der Wirbelsäule liegt, wurde die Ader dabei in der Regel angeschnitten oder ganz durchtrennt, und der sofortige Blutdruckabfall hatte einen Bewusstseinsverlust innerhalb kürzester Zeit zur Folge. Allerdings wurden im Laufe der Zeit auch alternative Schnitte und Ergänzungen eingesetzt. So existieren beispielsweise Beschreibungen eines sogenannten jumonji-giri, einer zeitweise unter den Daimyo bevorzugten Technik, die eigentlich aus zwei Schnitten bestand und durch ihre Kreuzform das Hervortreten der inneren Organe beschleunigte.

Nach Ausführung der Schnitte wurde vor oder nach der Ablage der Klinge von einem bereitstehenden Assistenten (dem Kaishaku-Nin oder Sekundanten, ebenfalls ein Samurai, meistens der engste Vertraute) der Hals mit einem Katana oder seltener mit einem Tachi von der Halswirbelsäule her weitgehend, jedoch nicht vollständig durchtrennt, um einen schnellen Tod herbeizuführen. Der Sekundant hatte zuvor außerhalb des Sichtfeldes des Todeskandidaten gestanden und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Der erlösende Hieb musste mit absoluter Gewissenhaftigkeit erfolgen, um das Leiden nicht durch eine verspätete Ausführung unnötig zu verlängern. Wäre er verfrüht, also vor dem Vorbeugen des Kopfes angesetzt worden, wäre die Klinge in den Halswirbeln stecken geblieben und hätte neben weiteren Qualen zusätzliche Hiebe nötig gemacht. Der Sekundant musste ebenfalls darauf achten, dass der Kopf nicht völlig vom Rumpf getrennt wurde, dieser musste immer noch durch einen Hautlappen mit dem Körper verbunden sein. Alles andere wäre dem Kandidaten gegenüber nicht respektvoll gewesen.  - Wikipedia

Ritual (6)  Die Überlieferung will, daß ich die Strecke, die mich von der Kirche trennt, ganz zu Fuß zurücklege; eigentlich müßte ich sagen, daß dies nicht nur ein eigentümlicher Brauch ist, sondern schon ein Teil der Hochzeitszeremonie; also trete ich mit meinem ersten Schritt ein in den hochzeitlichen Ritus. Die Braut wohnt traditionsgemäß in der Nahe der Kirche, und dennoch muß sie die kurze Wegstrecke zurücklegen, ohne dabei je den Boden zu berühren; sie vertraut sich einer Kutsche an, vor die zwei Pferde gespannt sind: ein weißes und ein schwarzes. Die Braut wird also ihre Wohnung erst verlassen, wenn ich schon geraume Zeit unterwegs bin. Trotzdem ist es nicht gesagt, daß sie sich direkt von ihrer Wohnung in den Tempel begeben muß; sie hat das Recht, sich auf Wege zu wagen, die nicht direkt zu ihrem Ziel führen, und sie kann aus dem letzten Vormittag ihrer Mädchenzeit einen langen Ausflug machen, der jedoch immer in der Kirche enden muß, wo unsere getrennten Geschicke sich zu einem einzigen Geschick vereinigen werden.

Ich mache mich auf den Weg, während um mich das Leben der Stadt allmählich erwacht. Ich schreite langsam aus, denn ich habe noch sehr viel Zeit vor mir, und ich weiß, die Zeit ist wandelbar und abstrakt, und nie wird jemand das genaue Maß der Zeit wissen, die zwischen zwei verschiedenen Augenblicken des Rituals verstreichen soll.  - Giorgio Manganelli, Brautpaare. In: (irrt)

Gebräuche, religiöse Wiederholung

 

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