arallelbuch   Ein »Parallel-Buch«, so glaubt man gemeinhin, sei ein Text, der neben einem anderen, schon existierenden Buch steht: eine beschriebene Folie, die Ausmaße und Formen einer anderen Folie nachzeichnet, deren Schriftzeichen und Signalen nachgeht, teils abschreibend, teils übersetzend, bestätigend, ablehnend oder erweiternd; es gliche demnach einem Kommentar, von dem es sich wiederum unterscheidet durch seine Kontinuität, denn es zerstückelt sich nicht in Glossen über einzelne Wörter, sondern gebärdet sich eher als Paraphrase, die bald mit dem Pantographen vergrößert, bald miniaturenhaft verkleinert oder gänzlich ihre eigenen Wege geht.

Jeder, der sich an die hinreißend servile Aufgabe des Abschreibens, des Entzifferns, des Enträtselns macht — denn von Schreiben kann keineswegs die Rede sein —, merkt bald, daß die Folie, in die er seine Zeichen ritzt, so schwach und dünn sie auch sein mag, niemals zum Äußeren des Buches parallel verläuft; und es dauert nicht lange, da merkt er auch, daß seinem Parallel-Buch kein anderer Weg bleibt als ein Parallelweg im Inneren des Buches, dessen Spuren er verfolgt. Anders gesagt, man stelle sich vor, das Buch, zu dem man eine parallele Struktur anlegen möchte, sei nicht etwa einer ebenen beschriebenen Folie gleich, sondern vielmehr einem Würfel. Wenn nun das Buch würfelförmig, also dreidimensional ist, kann man es nicht nur auf dem zwanghaften und durch die Grammatik gewährleisteten Pfad der Wörter einer Seite begehen, sondern auch auf anderen Wegen, indem man Wörter, Satzzeichen, Lücken und Absatzanfänge nach anderen — den verschiedensten - Gesichtspunkten miteinander verknüpft. Nicht nur dies: Verfährt man nämlich auf diese Weise mit den Wörtern, so werden sie — halb verbrecherischen, halb kryptischen - Indizien ähnlich, die das Buch auf seinem Weg ausgestreut hat oder auf die man in seinem Würfelgehäuse stößt, das Spuren, Fußnoten, Wortfunde, Wortsplitter, Schweigen birgt. Ein Buch, das man recht in seiner würfelförmigen Geographie versteht, verästelt sich so unendlich, daß es gänzlich unabsichtlich zum Inbegriff aller möglichen Parallel-Bücher wird, die zuletzt wiederum nichts anderes sind als alle möglichen Bücher überhaupt. Es ist also klar, daß es engstirnig wäre, wenn man versuchte, die Maße dieses innerlich lesbaren Würfels anzugeben, dasselbe gilt für jedes beliebige aller möglichen Parallel-Bücher, die im Gehäuse des Würfels zusammengeduckt warten.

Wir können fragen, warum Pinocchio so besonders würfelförmig ist; nein, sagen wir lieber gleich, daß Pinocchio geradezu eine Indizienfundgrube ist, ein Buch voller Spuren, Abdrücke, Rätsel, Scherze, Fluchten, ein Buch, in dem jedes Wort eine Endstation darstellt. Der Parallelschreiber erlebt in ihm die Auflösung des Würfels, haust mitten unter Beweisstücken, wovon, weiß er freilich nicht. Diese Verwirrung ist wesentlich. Sie hat zur Folge, daß er die goldene Regel des Parallelschreibens anwenden kann, welche lautet: »Alles ist willkürlich, alles ist belegt.« - Giorgio Manganelli, Pinocchio. Ein Parallel-Buch. Frankfurt am Main 1993 (it 1517, zuerst 1977)

Buch Parallele
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