Knospe
 

Auf einmal fasst die Rosenpflückerin
die volle Knospe seines Lebensgliedes,
und an dem Schreck des Unterschiedes
schwinden die linden Gärten in ihr hin

- Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Band II, 1957

Knospe (2)  Die Leidtragenden möchten in sich wieder einen Zustand der Symbiose herbeiführen, sie möchten wieder oder weiter »Halbe sein«, und das läßt sich in einer Weise auch oft ermöglichen. »Die Natur heilt«, wie man sagt. Dabei ist aus dem Leidtragenden nichts von den Erinnerungsknospen der Symbiosen im Moment des Todes verlorengegangen. Er hat sich aus dem anderen nicht weggenommen. Aber wiederum mag der Moment der Halbierung so schmerzhaft sein, daß man den Zustand des Überlebenden vergleichen kann mit dem Eintritt eines eisigen Winters. Die Knospen weren erst wieder ihre bessere Jahreszeit abwarten, um aufzugehen. Sind sie stark genug, dann kann zweierlei eintreten: Ein neuer Partner kann sie befruchten, oder die Pflanze des Leidtragenden bleibt für den Lebensrest eine sich selbst befruchtende Pflanze. Viele Pflanzen sind Selbstbefruchter, und die innere Weite des Menschen ist gewaltig. Es können genügend Kreuz- und Querbefruchtungen stattfinden, so daß das Sein im Überlebenden durchaus nicht stagniert. Außerdem gibt es starke Spermen der Emanation hin und wieder, und diesen fügt sich jede offene Knospe.  - Ernst Fuhrmann, Der Sinn des Todes. Nach (fuhr)

Knospe (3)  Wie drängte vorher alles im Leben der Pflanze nach diesem Moment hin und wie scheint es abgesehen auf eine mächtige, plötzliche, herrliche Überraschung derselben, wenn sie nun aufbrechend das, was sie erst bloß im Dunkel erstrebte, erarbeitete, ohne noch recht zu wissen, was es gälte, auf einmal im offenen Kelche als Geschenk von oben in vollem Gusse empfängt, ein Vorbild dessen, was wir einst für unsere Arbeit um das Höhere aus dem Höheren empfangen werden, wenn die Seele auch unsern Leib durchbrechen wird, Oder vergleichen wir es jetzt nur mit irdischem Geschehen! Tut sich wohl die Blume anders gegen das Licht auf als das, was auch am Menschenleibe wie eine bunte Blume erscheint, als das Auge sich zum ersten Male gegen das Licht öffnet? Faltet sie wohl ihre verschlossenen, in der Knospe zusammengepackten Blätter anders auseinander als der Schmetterling seine erst verschlossenen, in der Puppe zusammengepackten Flügel? Meint man, die Natur hat uns im aufbrechenden Auge und im ausbrechenden Schmetterling wirkliche Empfindung, in der auf- und ausbrechenden Blume bloß äußere Zeichen der Empfindung gegeben; wir seien es, die erst Empfindung dichtend dahineinlegten? Als wenn die Natur nicht mächtiger und reicher und tiefer mit dichtender Kraft begabt wäre als wir, wir ihr etwas schenken könnten, was sie nicht schon viel herzinniger in sich trüge, nicht all unser Dichten selbst erst ein schwacher Abglanz von ihrem Fühlen wäre, worein freilich unseres selbst auch mit eingeht, aber doch nicht allein eingeht. Soviel Gefühl, als wir uns in der erblühenden Blume denken mögen, hat sie gewiß wenigstens, ja gewiß mehr; jeder, der nicht eine Empfindung heuchelt, hat sie ja tiefer und voller, als ein anderer sie ihm ansehen kann.  - Gustav Theodor Fechner,  Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen.  In: G. T. F., Das unendliche Leben. München 1984 (zuerst 1848)
 
 

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