euschheit  Das Dorf, so erzählt man, wurde früher von einem jungen Priester beherrscht, der streng und heftig war. Voller Haß auf jene, die nach den Naturgesetzen leben und nicht nach denen seines Gottes, war er aus dem Seminar gekommen. Von unbeugsamer Härte gegen sich selbst, behandelte er die anderen mit erbarmungsloser Unduldsamkeit; eines hauptsächlich brachte ihn auf vor Zorn und Abscheu: die Liebe. Hätte er in den Städten, unter den Zivilisierten und Raffinierten gelebt, die hinter den feinen Schleiern des Gefühls und der Zärtlichkeit die brutalen Akte verbergen, die die Natur gebietet; hätte er im Dämmer eleganter hoher Kirchenschiffe die duftenden Sünderinnen einvernommen, deren Vergehen durch die Anmut des Sündenfalls und die idealische Umhüllung des materiellen Kusses versüßt scheinen, wäre er vielleicht nicht in so wilde Empörung, so ungezügelte Wut ausgebrochen, wie er sie angesichts der unreinen Begattung der Zerlumpten im schmutzigen Straßengraben oder im Scheunenstroh empfand.

Er ordnete sie dem Vieh zu, diese Menschen, die Liebe gar nicht kannten und nur wie die Tiere sich vereinigten; und er haßte sie für die Roheit ihrer Seele, für die schmutzige Befriedigung ihrer Instinkte, für die abstoßende Fröhlichkeit der Alten, wenn sie immer noch von diesen widerlichen Freuden schwätzten.

Vielleicht war er wider Willen auch von der Beklemmung ungestillter Gelüste heimgesucht und durch den Kampf seines Körpers gegen einen despotischen und keuschen Geist dumpf gepeinigt.

Alles jedenfalls, was an das Fleischliche rührte, entrüstete ihn, brachte ihn außer sich; und seine grimmigen Predigten voll wütender Andeutungen und Drohungen bewirkten, daß die Mädchen und Burschen grinsten und quer durch die Kirche hin sich verstohlene Blicke zuwarfen, während die Pachtbauern im blauen Kittel und die Bäuerinnen im schwarzen Umhang, wenn sie nach der Messe dem Hause zugingen, dessen Schornstein einen Streifen blauen Rauchs in den Himmel sandte, einander sagten: »Ja, der versteht keinen Spaß, der Herr Pfarrer.«

Einmal gar empörte er sich wegen nichts zum Verstandverlieren. Er wollte einen Kranken besuchen. Und als er in den Hof der Ferme trat, sah er einen Haufen Kinder, hauseigene und die der Nachbarn, um die Hundehütte geschart. Neugierig schauten sie auf etwas, ganz still, mit gesammelter, stummer Aufmerksamkeit. Der Priester ging näher. Es war die Hündin, die warf. Vor der Hütte wimmelten fünf Kleine um die Mutter, die sie liebevoll leckte, und in dem Augenblick, als der Priester seinen Kopf über die Kinder reckte, kam ein sechstes Hündchen ans Licht. Nun fingen all die kleinen Jungen vor Freude an zu schreien und in die Hände zu klatschen: »Da ist noch eins, da ist noch eins!« Es war ein Spiel für sie, ein natürliches Spiel, bei dem nichts Unreines war; sie sahen dieser Geburt zu, wie sie zugesehen hätten, wenn Äpfel fallen. Aber der Mann im schwarzen Rock verzerrte sich vor Entrüstung, er verlor den Kopf, hob seinen großen blauen Regenschirm und begann auf die Kinder einzuschlagen. Sie entflohen nach allen Seiten. Dann, als er allein vor der darniederliegenden Hündin stand, schlug er mit voller Kraft auf sie ein. Weil sie angekettet war, konnte sie nicht entfliehen, und als sie sich jaulend wehrte, stieg er auf ihren Leib, zerstampfte sie unter seinen Füßen, daß sie ein letztes Junges zur Welt brachte, und zertrat sie vollends mit dem Absatz. Dann ließ er den blutenden Körper mitten zwischen den miependen tapsigen Neugeborenen liegen, die schon die Zitzen suchten.  - (nov)

Keuschheit (2)  Letizia hat mir gesagt, daß sie Vanessa nicht mehr aushält. Sie haßt sie langsam. Vanessa hat eine Reihe von Manien, die sie unerträglich machen. Sie geht zum Beispiel jede halbe Stunde ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Sie ist imstande, einen Vorgang nur halb fertig zu machen, um sich die Hände waschen zu gehen. Sie gibt den Rest von einem Postbankkonto heraus und plötzlich kann sie nicht anders. Außerdem will sie nicht berührt werden. Das Postamt ist ein langer, enger Saal, der Schaltertisch durchschneidet ihn parallel zu den Längsseiten, zwischen dem Schaltertisch und der Wand im Rücken der Mädchen sind es ein Meter zwanzig, maximal eineinhalb Meter (und Regale, Stühle, Karteikästen nehmen noch Platz weg). Es ist unmöglich, sich zu bewegen, ohne einander zu streifen, zu berühren, auch anzustoßen. Vanessa protestiert jedesmal, manchmal schreit sie sogar. Für sie ist jeder zufällige Kontakt eine sexuelle Provokation, ein Angriff auf ihre Reinheit und Keuschheit. Es ist erstaunlich, wie grob und obszön Vanessa sein kann. - Giulio Mozzi, Vanessa, in: Italia fantastica! Berlin 1997 (WAT 280)

Keuschheit (3) Es gibt nur eine Sinnlichkeit, wie viele Gestalten sie auch annimmt, und auch nur eine Reinheit. Es ist gleich, ob der Mensch trinkt, kohabitiert oder schläft. Es gibt nur eine Lust, und wenn wir wissen wollen, wie sinnlich eine Person ist, so genügt es, zuzusehen, wie sie eine dieser Handlungen ausführt. Der Unreine kann in Reinheit weder sitzen noch stehen. Wenn das Reptil auf der einen Seite seines Schlupfwinkels angegriffen wird, so zeigt es sich an einer anderen. Wer keusch sein will, muß mäßig sein. Was ist Keuschheit? Wie weiß der Mensch, ob er keusch ist? Er wird es nicht wissen. Wir haben von dieser Tugend gehört, aber wir wissen nicht, was es ist. Wir sprechen darüber im Sinne der Gerüchte, welche wir darüber vernommen haben. Von der Anstrengung kommen Weisheit und Reinheit, von Faulheit Unwissenheit und Sinnlichkeit. Bei dem Studierenden ist Sinnlichkeit Geistesträgheit. Ein unreiner Mensch ist gewöhnlich ein Faulenzer, der beim Ofen sitzt, in der Sonne liegt, der sich ausruht, ohne müde zu sein. Willst du dich vor Unreinheit und allen Sünden bewahren, so arbeite ernstlich, und wäre es beim Stallreinigen. Die Natur ist schwer zu überwinden, und doch muß sie überwunden werden. Was bedeutet es, daß ihr Christen seid? Ich kenne viele als heidnisch angesehene Religionssysteme, deren Vorschriften den Leser mit Scham erfüllen und ihn zu neuen Anstrengungen anstacheln, und bestünden diese auch vielleicht nur in der Ausführung bloßer Religionsübungen.

Ich rede über diese Dinge nur mit Zögern; nicht wegen des Gegenstandes - es liegt mir nichts daran, wie obszön meine Worte sein mögen -, sondern weil ich nicht darüber sprechen kann, ohne meine eigene Unreinheit zu verraten. Wir besprechen frei und ohne Schamgefühl eine Form der Sinnlichkeit und schweigen über eine andere. Wir sind so tief gesunken, daß wir nicht einfach von den nötigen Funktionen der menschlichen Natur sprechen können. In früheren Zeitaltern wurde in manchen Ländern jede Funktion mit Ehrerbietung besprochen und durch das Gesetz geregelt. Nichts war dem indischen Gesetzgeber zu unbedeutend, wie anstößig es auch für den modernen Geschmack sein mag. Er lehrt, wie man essen, trinken, kohabitieren, die Exkremente und den Urin entleeren solle und so weiter, indem er adelt, was gemein ist, und nicht über diese Dinge hinweggeht, indem er sie als Kleinigkeiten bezeichnet.

Jeder Mensch ist der Erbauer eines Tempels, seines Körpers, für den Gott, dem er dient, nach einem Stil, der ausschließlich sein Eigen ist; auch kann er dem nicht entgehen, indem er statt seiner Marmor ausmeißelt. Wir sind alle Bildhauer und Maler, und unser Material Ist unser eigen Fleisch, Blut und Knochengerüst. Alles Edle fängt sofort an, die Züge eines Menschen zu verfeinern, jede Gemeinheit und Sinnlichkeit, sie zu vertieren.  - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich 1979 (zuerst 1854)
 

Reinheit
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