Eris    „Zwei Erisgöttinnen sind auf Erden", heißt es in Hesiods "Werke und Tage". Dies ist einer der merkwürdigsten hellenischen Gedanken und wert, dem Kommenden gleich am Eingangstore der hellenischen Ethik eingeprägt zu werden. „Die eine Eris möchte man, wenn man Verstand hat, ebenso loben als die andere tadeln; denn eine ganz getrennte Gemütsart haben diese beiden Göttinnen. Denn die eine fördert den schlimmen Krieg und Hader, die Grausame! Kein Sterblicher mag sie leiden, sondern unter dem Joch der Not erweist man der schwerlastenden Eris Ehre, nach dem Ratschlüsse der Unsterblichen. Diese gebar, als die ältere, die schwarze Nacht; die andere aber stellte Zeus, der hoch waltende, hin auf die Wurzeln der Erde und unter die Menschen, als eine viel bessere. Sie treibt auch den ungeschickten Mann zur Arbeit; und schaut einer, der des Besitztums ermangelt, auf den anderen, der reich ist, so eilt er sich in gleicher Weise zu säen und zu pflanzen und das Haus wohl zu bestellen; der Nachbar wetteifert mit dem Nachbarn, der zum Wohlstände hinstrebt. Gut ist diese Eris für die Menschen. Auch der Töpfer grollt dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, es neidet der Bettler den Bettler und der Sänger den Sänger."

Die zwei letzten Verse, die vom odium figulinum handeln, erscheinen unseren Gelehrten an dieser Stelle unbegreiflich.  Nach  ihrem  Urteile passen  die Prädikate „Groll" und „Neid" nur zum Wesen der schlimmen Eris: weshalb sie keinen Anstand nehmen, die Verse als unecht oder durch Zufall an diesen Ort verschlagen zu bezeichnen. Hierzu aber muß sie unvermerkt eine andere Ethik, als die hellenische ist, inspiriert haben: denn Aristoteles empfindet in der Beziehung dieser Verse auf die gute Eris keinen Anstoß. Und nicht Aristoteles allein, sondern das gesamte griechische Altertum denkt anders über Groll und Neid als wir und urteilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegeneinander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht, Groll, Neid die Menschen zur Tat reizt, aber nicht zur Tat des Vernichtungskampfes, sondern zur Tat des Wettkampfes. Der Grieche ist neidisch  und  empfindet   diese  Eigenschaft  nicht  als Makel, sondern als Wirkung einer wohltätigen Gottheit:  welche Kluft des ethischen Urteils zwischen uns und ihm! Weil er neidisch Ist, fühlt er auch, bei jedem Übermaß von Ehre, Reichtum, Glanz und Glück, das neidische Auge eines Gottes auf sich ruhen, und er fürchtet diesen Neid; in diesem Falle mahnt er ihn an das Vergängliche  jedes  Menschenloses,   ihm  graut  vor  seinem Glücke, und das Beste davon opfernd beugt er sich vor dem göttlichen Neide. Diese Vorstellung entfremdet ihm nicht etwa seine Götter: deren Bedeutung im Gegenteil damit umschrieben ist, daß mit ihnen der Mensch nie den Wettkampf wagen darf, er, dessen Seele gegen jedes andre lebende Wesen eifersüchtig erglüht. Im Kampfe des Thamyris mit den Musen, des Marsyas mit Apoll, im ergreifenden Schicksale der Niobe erschien das schreckliche Gegeneinander der zwei Mächte, die nie miteinander kämpfen dürfen, von Mensch und Gott.

Je größer und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft. Aristoteles hat einmal eine Liste von solchen feindseligen Wettkämpfern im großen Stile gemacht: darunter ist das auffallendste Beispiel, daß selbst ein Toter einen Lebenden noch zu verzehrender Eifersucht reizen kann. So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältnis des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Starke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben. Jeder große Hellene gibt die Fackel des Wettkampfes weiter.    - [Hesiod nach] Friedrich Nietzsche, Homers Wettkampf

 

Göttin Streit Wettbewerb

 

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