Eisscholle, kosmische     Der blutjunge Astronom David Burstein von der Arizona State University erweckte kaum den Eindruck eines Mannes, der zum Helden (oder Schurken) der Stunde wird. Er war stämmig und hatte einen schmalen Kinnbart, der sein breites Gesicht mit der unglaublich breiten Oberlippe betonte. Fast schon die ganze Woche war sie zum selbstgefälligen Grinsen verzogen gewesen. »Was ich zu sagen habe, bringt in sämtliche Vorträge der beiden vorangegangenen Tage Sinn«, eröffnete er mir gewichtig. Ich konnte mir sein ungeheures Selbstbewußtsein nicht erklären. Burstein hatte bei Vera Rubin studiert und gehörte als postdoc in Santa Cruz zu einem großen Team von Wissenschaftlern, das von Sandra Faber geleitet wurde und später als »die Sieben Samurai« bekannt wurde.* Bursteins Selbstbewußtsein hing damit zusammen, daß die Sieben Samurai auf das gleiche Problem gestoßen waren wie Vera Rubin, die sich mit der Entdeckung einer mutmaßlichen Unregelmäßigkeit in der Hubble-Expansion den Argwohn der Kollegen zugezogen hatte.

Im Jahre 1980 hatte die Gruppe mit einer ehrgeizigen Studie zu elliptischen Galaxien begonnen, an der schließlich zehn Teleskope auf vier Kontinenten beteiligt waren. Sie bestimmten die Entfernungen der Galaxien mit der sogenannten Faber-Jackson-Relation, einer als sekundärer Entfernungsindikator für Galaxien dienenden Methode, bei der die Leuchtkraft einer elliptischen Galaxie mit der mittleren Geschwindigkeit der Sterne innerhalb der Galaxie verknüpft wird. Die Geschwindigkeiten werden aus der Verbreiterung ihrer Spektrallinien ermittelt: Je breiter die Linien verschmiert sind, desto höher ist die Geschwindigkeit und desto massereicher und heller die Galaxie. Burstein und seine Kollegen kartographierten in den folgenden Jahren die Positionen von dreihundertzweiundzwanzig Galaxien, die über eine halbe Milliarde Lichtjahre im Weltraum verteilt waren.

Was konnte die Gruppe mit den Entfernungen von dreihundertzweiundzwanzig elliptischen Galaxien anfangen? Sie konnte beispielsweise ihre Geschwindigkeiten ermitteln und mit denen vergleichen, die sie nach dem Hubble-Gesetz haben mußten. Der Vergleich ergab sogenannte Pekuliarbewegungen, die durch zufällige Einwirkung von Schwerkraft zustande kamen. Burstein ging von folgender Überlegung aus: Wenn man nur einen hinreichend großen Teil des Weltalls beobachten würde, müßte sich ein zufälliges Muster von Bewegungen ergeben, einige Galaxien würden auf den Betrachter zu fliegen, andere von ihm weg. Doch als 1985 die Daten ausgewertet wurden, kam ein anderes Ergebnis heraus.

Es sah eher so aus, als bewege sich die gesamte beobachtete Region, vom Perseushaufen rund dreihundert Millionen Lichtjahre im Norden bis zum Hydra-Centaurus-Superhaufen im entlegenen Süden, als Ganzes mit hunderttausend Galaxien und tausend Billionen Sonnen weiter nach Süden, an Hydra-Centaurus vorbei, und das mit einer Geschwindigkeit von siebenhundert Kilometern pro Sekunde - ungefähr zweieinhalb Millionen Kilometern pro Stunde!

Es handelte sich dabei nicht mehr um eine großräumige, sondern um eine hypergroßräumige Struktur. Und man hatte eine Zahl, nicht nur ein Bild. Die Untersuchung der Sieben Samurai umfaßte das gesamte Lokale Universum. Es war, als treibe der größte Teil des bekannten Alls wie auf einer Eisscholle in einer unbekannten Strömung dahin. Die Richtung der Strömung war ungefähr dieselbe wie beim berühmt-berüchtigten Rubin-Ford-Effekt. Sandra Faber und Burstein, beide frühere Mitarbeiter und Bewunderer von Vera Rubin, informierten sie sofort telefonisch von der Neuigkeit.

* Zur Erinnerung: Die Sieben Samurai waren Sandra Faber, Burstein, Alan Dressler, Donald Lynden-Bell, Roger Davies, Roberto Terlevich und Gary Wegner.

 - Dennis Overbye, Das Echo des Urknalls. München 1993

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