Coex-System    Es gibt zahlreiche literarische Untersuchungen über Joyce, aber die beste Einführung zu Finnegans Wake ist möglicherweise Dr. Stanislav Grofs Topographie des Unbewußten, eine Studie zu unter LSD gemachten Raumerfahrungen. Insbesondere sollte Grofs Bezeichnung «Coex-System» von allen, die über Joyce schreiben oder ihn zu lesen versuchen, verstanden werden. Ein «Coex-System» (Condensed experience) ist eine Art verdichtete, aus Erfahrungen bestehende Filmmontage: d.h., man erlebt nochmals die eigene Geburt, erinnert sich vorgeburtlicher, intrauteriner Ereignisse, durchlebt nochmals stammesbedingte oder archäologische Krisen von Menschen/Tieren, auf die unsere Abstammung zurückgeht, man sieht den subatomaren Energiewirbel, in dem alle Formgebung ihren Anfang nahm, schaut die zukünftige Super-menschheit und erleidet schreckliche Schuldgefühle auf Grund der eigenen Unfreundlichkeit einem anderen Kind gegenüber, damals, als man vier Jahre alt war ... alles gleichzeitig!

Kritiker versuchten Finnegans Wake mit Hilfe von Freudschen und Jungschen Mitteln zu erklären, aber Joyce war der Psychologie seiner Zeit einen Quanten-Sprung voraus gewesen. Alles in Finnegans Wake ist ein Coex-System im Grofschen Sinne. Wir können es nur unter den Bedingungen der neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Neurologie, der Genetik, der Soziobiologie und der Exo-Psychologie verstehen. Finnegans Wake mit Leichtigkeit und Freude lesen zu lernen, heißt mit seinem ganzen Hirn denken lernen - «bewußte» und «unbewußte» Schaltkreise Inbegriffen. In ganzheitlichen Coex-Systemen.

Dr. Nick Herbert entwarf das folgende Diagramm, um eine mögliche «von Zusammenhängen abhängige Sprache» zu veranschaulichen, mit deren Hilfe die moderne Quantentheorie beschrieben werden könnte.

In einer solchen Sprache käme dem Punkt A seine volle Bedeutung auf Grund des Zusammenhangs zwischen den Punkten B, C, D und E zu; B seinerseits bekäme seine volle Bedeutung durch A, C, D und E, usw. Auf diese Weise funktionieren auch ein mit LSD ausgelöstes Coex-System und die phantastische Traum-Fabel Finnegans Wake.

Ein Beispiel: Der Ausdruck «thuartpeatrick» auf Seite 1 von Wake. Im Rahmen der Simultanität des Coex-Systems findet sich darin folgendes:

1. «Thou art Peter» (Du bist Petrus), die englische Version jenes Wortspiels, auf das die katholische Kirche sich angeblich gründet. (Petrus bedeutet Fels, und das auf Jesus zurückgeführte Wortspiel lautet «und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen»).

2. «Tu es Petrus», die lateinische, dem Englischen überlagerte Vulgata desselben Satzes.

3. Ein Wortspiel auf «thwart» (quer, schräg, querüber, in die Quere kommen), das sich im Zusammenhang des gesamten Werkes auf die sexuelle Frustration des Träumers H. C. Earwicker bezieht.

4. Die «peat ricks» (Torf-Schober), die, das Heizmaterial enthaltend, neben jedem irischen Haus zu stehen pflegten. Dies ist eines von einigen Dutzend auf der ersten Seite enthaltenen Wortspielen, die dazu beitragen, den Träumer in Irland zu lokalisieren; andere Wortspiele deuten insbesondere auf Dublin hin.

5. Ein Wortspiel auf die gäli-sche Form von «Patrick» (Paidrig), Irlands Nationalheiligen; eine weitere Erhärtung in bezug auf den irischen Raum, in dem der Traum zu lokalisieren ist.

6. Ein Wortspiel auf «pea trick» (Erbsen-Trick), das sich auf die zahlreichen anderen «Erbsen-Wortspiele» des Buches bezieht. Sie alle drehen sich um den Begriff «sich gleichen wie zwei Erbsen in der Schote», was wiederum mit der Tatsache in Zusammenhang steht, daß die Söhne des Träumers Zwillinge sind, die physisch nicht zu unterscheiden, psychisch aber völlig gegensätzlich sind.

7. Ein beziehungsvoller Zusammenhang in Anbetracht de; wiederholten Kehrreims «minc your p's and q's» (achte auf deine PS und Qs), der sich allgemein auf die Schuld des Träumers bezieht. Zudem deuten die beim Klang von P und «pea» auftauchenden Assoziationen aul «Pipi» und damit auf den unbewußten Harnzwang des Träumers hin.

8. Eine Andeutung, daß die katholische Kirche, Finnegans Wake selbst oder möglicherweise die Literatur im allgemeinen einen «Erbsen-Trick» - ein Hülsenspiel - darstellen, ein semantisches Spiel, in welchemdie Worte beinahe zu jenen Realitäten werden, die sie symbolisieren.

Ich bin sicher, das ist noch lange nicht alles, was in «thuartpea-trick» enthalten ist. Es ist lediglich das, was ich während eines dreißig- oder vierzigmaligen Lesens aus Finnegans Wake herausgeschöpft habe. Da ich die Methodik von Joyce kenne, würde es mich nicht überraschen, falls auch Hinweise auf Kannibalismus bei den Litauern oder auf Flüsse in Rußland in diesen Worten verborgen wären. (So war ich beispielsweise jahrelang überzeugt , daß sich hinter den «white-boyce of Hoodie Head» - ebenfalls auf Seite l zu finden - nur

die White Boys, eine irische revolutionäre Gruppe des neunzehnten Jahrhunderts, und der Ku-Klux-Klan, eine amerikanische Parallele dazu, verbergen würden. Dann lernte ich die Bedeutung des deutschen Wortes «Hode» kennen, und ich realisierte, daß mit «whiteboyce of Hoodie Head» die in den Hoden enthaltenen Spermatozoen gemeint waren.)

Ein anderes köstliches Beispiel für die Joycesche Coer-Sprache ist der Ausdruck «goddinpotty» in Kapitel vier. Wir können hier folgende gegenseitige Überlagerungen finden:

1. Garden Party. Der Sprecher in dieser Szene ist eine Engländerin, und Joyce parodiert die Sprechweise der englischen «Up-perclass», wo sich «Garden Party» tatsächlich wie «goddinpotty» anhört.

2. Garden Party weist auch auf das Garten Eden-Thema hin, welches das gesamte Buch durchzieht (vom Erscheinen von Adam und Eva vom ersten Satz an), hieraus zum Sündenfall und somit - auf derselben Linie der Traumsymbolik - zum Fall Finnegans führt, auf den sich der Titel des Buches bezieht.

3. Der Sündenfall im Garten Eden verbindet sich mit dem Schuldgefühl des Träumers in bezug auf eine geheimnisvolle, im Gebüsch des Phoenix Park in Dublin begangene «Sünde».

4. «God» und «din» weisen auf den Donnergott Thor hin, der einen der Hauptcharaktere des Traums verkörpert - möglicherweise deshalb, weil es im Verlauf der Nacht zehnmal donnert.

5. «God-in-potty» ruft jedem, der im katholischen Glauben erzogen worden ist, die Hostie im Meßkelch in Erinnerung, die sich zum Leib Gottes wandelt, sobald der Priester die magische Formel dazu spricht.

6. Der Träumer selbst ist jedoch im doppelten Sinne «host» (letzteres kann sowohl als «Gast» wie auch als «Hostie» übersetzt werden): a) im Wachzustand ist er Gast eines Wirtshauses; b) im Verlauf des Traumes wird er regelmäßig denunziert, verurteilt, hingerichtet und kannibalisch verschlungen, wobei er auch vom Tode aufersteht. Dies alles wiederholt das Muster der Christus-Mythe, wie das auch beim Segnen und Einnehmen der Hostie in der heiligen Messe geschieht. Es wiederholt auch all die mit Tod und Auferstehung verbundenen Vegetations-Gottheiten aus Jungs kollektivem Unbewußten. (In Freuds persönlichem Unbewußten repräsentieren die Anklagen und Hinrichtungen die sexuelle Schuld des Träumers).

7. «Potty» (Töpfchen) bringt wiederum den kindlich unentwickelten Harnzwang des Träumers ins Spiel.

 Man sieht, daß wir allein bei der Analyse von zwei Sätzen (drei Worten) aus Wake im Grunde genommen auf jedes wichtige Thema des Traums - aus dem persönlichen Unbewußtsein des Helden und aus den kollektiven DNS- Archiven der Menschheit -gestoßen sind. Joyce packte natürlich nicht so viel in jeden Satz, aber wenn man in einem seiner Wortspiele nur zwei Bezugsebenen gefunden hat, sind vielleicht zwei weitere übersehen worden -möglicherweise so viele, wie in diesen Beispielen enthalten sind.

Finnegans Wake ist nicht nur ein großartiger Roman und eine semantische Symphonie, das Werk enthält auch eine ganze psycho-archäologische und historisch-neurolinguistische Wissenschaft. Wie John Gardner dazu sagte: «Joyce ging in diesem Buch der Sache auf den Grund. Kein menschliches Wesen der Weltgeschichte, nicht einmal Beethoven, hat jemals jedes einzelne Stück Gemütsbewegung, Gedanken und Gefühl so dargelegt wie Joyce. Er lotet jede Unze seiner Seele, jede Zelle, jedes Gen aus.»  - (ill)

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