Code, genetischer  DER SINN DES BOTEN IST DIE BOTSCHAFT. Die Antwort steckt in diesen Worten, nur habt ihr deren tiefere Bedeutung noch nicht erfaßt. Ein jeglicher Organismus hat nur eine Aufgabe: den Code weiterzugeben, sonst nichts. Selektion und natürliche Auslese konzentrieren sich denn auch ausschließlich auf diese Aufgabe - was geht sie die Idee irgendeines »Fortschritts« an! Ich habe ein unpassendes Bild benutzt; die Organismen sind keine Gebäude, sondern eigentlich nur Gerüste, und so ist ihnen das Provisorische gerade angemessen, denn es genügt. Gib den Code weiter, und du wirst eine Weile leben. Wie ist es dazu gekommen? Wozu dann ein so glänzender Start? Nur ein einziges Mal, ganz am Anbeginn, hat die Evolution vor einer Aufgabe gestanden, die von ihr das Äußerste forderte, und diese horrende Aufgabe mußte sie in ihrer ganzen Schwierigkeit entweder mit einem einzigen Sprung schaffen - oder überhaupt nicht. Denn auf der unbelebten Erde konnte es nur darum gehen, daß sich das Leben an einem Stern und der Stoffwechsel an der Quantenenergie festmachte. Daß gerade die strahlenförmige Sternenenergie für eine kolloidale Flüssigkeit am schwierigsten einzufangen ist, hatte dabei keine Rolle zu spielen. Es ging um alles oder nichts; etwas anderes gab es damals nicht zu fressen. Was es an organischen Verbindungen gab, vereinigte sich zum Leben, und nur dafür reichte es gerade aus - gleich die nächste Aufgabe war dann der Stern; ferner konnte aber der einzige Schutz vor den Attacken des Chaos, der Faden, der sich über den Abgrund der Entropie spannte, nur in einem zuverlässigen Ordnungsspender bestehen - und so entstand der Code. Durch ein Wunder? Unsinn! Durch die Weisheit der Natur? Das wäre eine Weisheit von der gleichen Art, wie sie für das bereits Gesagte verantwortlich ist: Gerät ein großer Schwarm Ratten in ein Labyrinth, so wird - mag es auch noch so verwirrend sein - irgendeine Ratte zum Ausgang gelangen; und genau auf diese Weise ist die Biogenese zum Code gelangt - nach dem Gesetz der großen Zahl, gemäß der ergodischen Hypothese. Blindes Schicksal also? Das auch wieder nicht, denn es ist kein in sich geschlossenes Rezept entstanden, sondern der Keim einer Sprache.

Das bedeutet, daß durch das Zusammentreten der Moleküle Verbindungen entstanden, die Sätze darstellen, und folglich gehören sie zu dem unendlichen Raum kombinatorischer Bahnen, der ihr Spezifikum ist - als bloße Potentialität, als Virtualität, als Artikulationsraum, als Menge der Gesetze von Konjugation und Deklination. Man hat darunter nicht mehr, aber auch nicht weniger zu verstehen als eine Unmenge von Chancen, nicht aber eine automatische Verwirklichung! Denn auch in der Sprache, die ihr sprecht, kann man Kluges oder Dummes sagen, kann man die Welt oder auch nur die Geistesverwirrung des Sprechenden wiedergeben. Möglich ist freilich auch ein hochkompliziertes Gestammel!

So sind denn - ich kehre zur Sache zurück - der Ungeheuerlichkeit der Anfangsaufgaben entsprechend zwei ungeheuerliche Realisationen entstanden. Diese Genialität war indes erzwungen - und daher von begrenzter Dauer; dann wurde sie verschleudert!

Oh, wie feiert ihr sie, die Komplexität der höheren Organismen! In der Tat sind ja die Chromosomen eines Reptils oder eines Säugetiers, zu einem Faden aufgereiht, tausendmal länger als der entsprechende Faden einer Amöbe, eines Urtiers oder einer Alge. Aber wo ist dieser, im Laufe vieler Epochen angesammelte Überfluß eigentlich angelegt worden? In einer doppelten Verkomplizierung - der Embryogenese und ihrer Folgen. Vor allem aber der Embryogenese, denn die Entwicklung der Frucht ist eine zielgerichtete Bahn in der Zeit, wie die Bahn eines Geschosses im Raum, und so würde, ebenso wie ein Zittern des Gewehrlaufs zwangsläufig zu einer enormen Zielabweichung führt, jede Defokussie-rung der embryonalen Entwicklungsetappen den ganzen Ablauf in ein vorzeitiges Verderben stürzen. Hier, und nur hier, hat die Evolution einmal tüchtige Arbeit geleistet. Sie stand hier unter strenger Kontrolle, die von dem Ziel geleitet war, den Code zu erhalten, und deshalb hat sie hier mit größter Sorgfalt und mit einem großzügigen Einsatz von Mitteln gearbeitet. Deshalb auch hat die Evolution den Genfaden der Embryogenese anvertraut, also nicht dem Bau der Organismen, sondern ihrem Aufbau.

Die Komplexität der höheren Organismen ist kein Erfolg, kein Triumph, sondern eine Falle, denn sie zieht sie in eine Unzahl nebensächlicher Auseinandersetzungen hinein und schneidet ihnen zugleich gewaltige Möglichkeiten ab, beispielsweise die Nutzung von Quanteneffekten im großen Maßstab oder die Einbeziehung der Photonen in die Ordnung des Organismus - um nur diese zu nennen! Die Evolution konnte jedoch nur fortfahren, die Kompliziertheit ständig zu steigern, es gab kein Zurück, denn je mehr dürftige Verfahren sie einsetzte, umso mehr mußte sie auf anderer Ebene eingreifen, was wiederum Störungen nach sich zog und damit neue Verwicklungen auf erweiterer Stufe.

Die Evolution rettet sich nur durch die Flucht nach vorn - in eine banale Vielfalt, einen scheinbaren Formenreichtum, einen scheinbaren, weil es sich um eine Ansammlung von Plagiaten und Kompromissen handelt; sie macht dem Leben das Leben schwer, indem sie durch naheliegende Innovationen triviale Dilemmata schafft. Der negative Gradient bedeutet nicht, daß die Evolution keine Verbesserungen, nicht eine bestimmte Ausgewogenheit in ihrer Handlungsweise erreicht hätte; er stellt lediglich fest, daß der Muskel gegenüber der Alge, das Herz gegenüber dem Muskel die schlechtere Lösung ist, denn er bedeutet ganz einfach, daß man die elementaren Aufgaben des Lebens zwar nicht viel besser lösen kann, als es die Evolution getan hat, daß sie aber den. höheren Aufgaben ausgewichen ist, sich unter den Möglichkeiten, die in ihnen steckten, hinweggestohlen, sie vertan hat;. - Stanisalw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main 1986

Genom Code

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