hristentum, tätiges    Die Patienten, die in den Betten lagen, waren meist sehr still. Sie blickten mit großen, leeren Augen zur Decke, nur in einer Ecke lag einer, der mit zahnlosem Munde immer die gleichen Worte plapperte: »Zweihunderttausend Rinder, zweihunderttausend Schafe, zweihunderttausend Pferde, zweihunderttausend Franken ...«

Gerade als der Wachtmeister auf den Pfleger Knuchel zutreten wollte (er erinnerte sich jetzt, daß er ihn schon auf der großen Visite gesehen hatte, es war jener gewesen, den Dr. Laduner abgekanzelt hatte), entstand Geräusch und Füßescharren draußen im Gang. Räuspern. Dann stimmten Frauenstimmen einen Choral an.

Studer trat auf den Gang. Es waren drei alte Fräulein, die vierte war jünger und trug eine Gitarre, auf der sie eine einfache Begleitung spielte .. .

Sie sangen mit schleppenden Stimmen vom Himmelreich und seinem Glanz und von der Sünder Seligkeit. Der Pfleger Knuchel mit dem breiten Kinn und den Wulstlippen stand in der Türe zum Krankensaal und hatte ein einfältiges Lächeln um den Mund. — Vielleicht war das Lächeln auch fromm. Das jüngere Fräulein stimmte die Gitarre, präludierte. Eine frischfröhliche Weise, die sich gar sonderbar ausnahm, gesungen von den verwelkten Lippen:

»Die Sach' ist dein, Herr Jesus Christ. ..«

Und dann wandte sich eines der alten Fräulein an Studer: »Die armen Kranken«, sagte sie, »man muß den armen Kranken auch eine Freude bereiten. Sie haben sonst gar keine Abwechslung! .. .«

In seiner Ecke hinten zählte der Kranke immer noch seine Rinder-, Pferde- und Schafherden ... Er hatte dem Gesang nicht zugehört... Und die andern starrten zur Decke und sabberten auf ihre Leintücher. Die Fräulein verfügten sich eine Abteilung weiter, um andere Seelen zu erquicken . . .

»Das ischt werktätiges Christentum«, sagte der Pfleger Knuchel, dessen Hemdkragen von einem kupfernen Klappknopf zusammengehalten wurde .. . »Die Ärzte mit ihrer Wissenschaft!« meinte er verächtlich. »Nichts für die Seele, nichts für den Geischt... Arbeitstherapie! ... Ich habe einmal versucht, am Abend regelmäßige Bibelstunden einzuführen, aber da hat mich Dr. Laduner bös angefahren ... Er habe nichts gegen die Religion, hat er gesagt, aber hier in der Anstalt sei es von Wichtigkeit, daß die Patienten lernten, der Wirklichkeit furchtlos ins Auge zu schauen.« Der Pfleger Knuchel sprach wie ein Sektenprediger. Studer hatte einmal solch eine »Stunde« besucht, aus beruflichen Gründen, ein kleiner Hochstapler hatte sich bei den Leuten angebiedert, und fünf Kantone suchten ihn wegen Diebstahls und Betrugs ... Studer kannte die Worte des Liedes, er kannte seine Melodie ... Harmlose Leute, die in diesen »Stunden« verkehrten, stolz auf das, was sie ihr Christentum nannten — und es erlaubte ihnen, auf andere Leute selbstgerecht herabzublicken .. .

»Aber«, sagte Studer, »mit dem Gilgen habt Ihr Euch nicht gerade anständig benommen ... Nicht einmal christlich ...«

Ein starrer Zug trat in Knuchels Gesicht. Er erwiderte:

»Das weltliche Tun muß ausgerottet werden ... Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. ..«, zitierte er. Und Studer fragte sich, ob man den Klatsch wirklich ein Schwert nennen könne .. .

Wieder veränderte sich Knuchels Gesichtsausdruck, er wurde süßlich, ein gütig sein sollendes Lächeln entstand um seinen Mund.

»Wer nicht hören will, muß fühlen ...«, meinte er. »Nur an der Religion kann unsere Welt genesen, und ich predige den guten Geist, aber wenn sie meinen Heiland verspotten«, sagte er und runzelte die Brauen, »dann muß man sie züchtigen mit eisernen Ruten.« - Friedrich Glauser, Matto regiert. In: F. G.: Kriminalromane. Berlin 1990 (zuerst ca. 1936)

 

Mildtätigkeit Christentum 

 

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