hnungsvermögen  Wir trafen uns mit dem klugen H. im italienischen Restaurant und schnell folgte auf die alltäglichen Erkundigungen der gesunde, entschlackende Klatsch und auf ihn das gehobene Gespräch. Hiervon mußte man bald den Eindruck gewinnen, daß die denkenden Gedächtnisse heute oft auch die zerfahrensten sind, ja daß sie ihr Denken allein noch im quälenden Zustand einer Gedankenflucht erhalten, also immer nur verlieren können. Wieviel schnelle Urteile stoßen sie doch aus in kürzester Zeit, wieviele geachtete Namen, mit denen sie bloß spielen und reizen und glänzen. Indessen wird von diesen bedrängten Köpfen so gut wie überhaupt keine Frage mehr gestellt; mit panischer Gewandtheit meiden sie die Schutzlosigkeit, in die sich der fragende Mensch  begibt. Dies trifft auch auf H. zu, der obendrein das Heidegger-Wort, daß nämlich das Fragen die Frömmigkeit des Denkens sei, ohne weiteres in seinen Meinungserguß mit einfließen läßt. Nun, es ging von Savonarola über Tâpies zu Stanley Kubrick, von Rousseau zu Carl Schmitt. Schließlich herzliche Verabschiedung von H. Er, ein Fußgänger, macht sich mit kleinen Schritten auf den Weg zu weiteren Besorgungen; wir, ein anderer Freund und ich, steigen in mein Auto. Kurz darauf treffen wir ihn wieder, den Fußgänger, wie er bei grüner Ampel die Fahrbahn überquert. Als ich ihn erblicke, fahre ich im Spaß scharf auf ihn zu, bremse erst knapp vor seinen Beinen und erhebe die Hand zu einem nochmaligen Gruß. Er aber, der mich hinter dem Steuer nicht wiedererkennt, droht zurück mit der geballten Faust, wie es der Fußgänger dem dreisten Autofahrer gegenüber zu tun pflegt.  - Botho Strauß, Paare, Passanten. München 1984 (dtv 10250, zuerst 1981)
 
 

Ahnung Sinn, sechster

 

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