rage  Einstein fragte den vom Hausdach gestürzten, aber wie für seine Neugierde unbeschädigt aufbewahrten Handwerksmann, was er beim Fall empfunden oder auch nicht empfunden habe. Das Glück, mit heilen Knochen überlebt zu haben, mochte den anderen ›erfüllen‹; verlangt wurde von ihm die theoretische Schönheit der Aussage, daß er von der ›Schwere‹, die ihn fallen ließ, nichts bemerkt habe. Einstein inspizierte einen physischen Körper mit Hilfe der sonst für den Physiker ganz überflüssigen Einwohnerschaft des Bewußtseins in demselben. Welche Wendung: Die Physik konnte die Subjektivität gebrauchen, statt sich ihrer als der aufdringlichsten Fehlerquelle zu entledigen. Für einen Augenblick war die Epoche der Kugeln und Äpfel, der Tropfen und Ströme, der Druckkessel und Meßsäulen vergessen. Es gab einen Zeugen! In der Unverfrorenheit des Theoretikers, der nicht zur Praxis der Hilfeleistung herbeieilt, sondern die verrufene Introspektion betreiben will, ist eine seltsam anachronistische Figur; und schon daran sollte sich die Nachdenklichkeit heften, ob und wie weitgehend das jeweils ›Neueste‹ es nur um den Preis einer ›überholten‹ Attitüde sein kann. In der Kasuistik des Peripatos hätte die Bezeugung des Dachdeckers vorkommen können, er habe sich leicht und frei gefühlt — und das hieß damals: wie einer, der das Natürlichste von der Welt tut, wenn er ›schwer‹ ist, nämlich durch Rückkehr zu seinem topos oikeios es nicht mehr zu sein. - (blum2)

Frage (2) Die Lebenswelt ist die Welt, in der es auf alles eine Antwort gibt und dies jeder so gut weiß, daß er die Fragen gar nicht erst stellt. Sie wären immer von dem Typus der Kinderfragen, die gar nicht um der Antworten willen gestellt werden, sondern um das ›Spiel‹ in Gang zu halten, den Adressaten mit Beschlag zu belegen.

Trotzdem bilden Fragen und Antworten ganze ›Systeme‹. Sie sind vom zirkulären Typ, ohne daß daran jemals Anstoß genommen würde.

Etwa so:

—       Woher kommt es, daß die elektrische Eisenbahn fährt?
—       Durch den Strom.
—       Woher kommt der Strom?
—       Aus der Steckdose.
—       Bekommt man so viel Strom, wie man haben will?
—       Wenn man genug Geld hat, ihn zu bezahlen.
—       Woher bekommt man das Geld?
—       Von der Bank.
—       Woher hat es die Bank?
—       Von der Zentralbank.
—       Woher hat es die Zentralbank?
—       Vom Staat.
—       Woher hat es der Staat?
—       Von mir.

—       Zufrieden?
—       Ja, ziemlich.

Wenn nun einer meint, dies sei die reinste Kinderei, dann muß ihm leider gesagt werden, daß die ›Weltmodelle‹ in vielen zeitgenössischen Köpfen gerade nach diesem Muster gemacht sind.

Wir sind irgendwann in der Lebenswelt gestört worden — und das lassen sich viele Leute nicht gefallen. - (blum)

Frage (3) Die Philosophie behandle eine Frage wie eine Krankheit, hatte Wittgenstein geschrieben, und nicht zufällig ungefähr gleichzeitig mit dem Ausspruch Freuds, wer nach dem Sinn des Lebens frage, sei krank. Aufs Ganze dieses Lebens hin betrachtet, ist es eine pathologische Sonderbarkeit, Fragen zu stellen, deren Beantwortung, wäre sie möglich, ebenso lebensstörend sein müßte wie ihre Unbeantwortbarkeit. Allerdings, wer sich der Antwort verweigert und sich darauf beruft, nur Fragen seien zu akzeptieren, für die sich das Verfahren ihrer Erledigung angeben lasse, darf nicht aus dem Blick verlieren, daß er anderen den Platz überläßt, den zu besetzen er sich weigert. Was Theologien sich leisten und nur deshalb leisten können, weil sie Verweigerung von Antworten als Anerkennung der Verborgenheit Gottes und seiner Vorbehalte gegenüber menschlicher Neugierde zu integrieren vermögen, hinterläßt in anderem Zusammenhang den Sog einer Vakanz. Gelingt es aber ohne Antwortverweigerung, die Verlegenheiten Ausnahmen bleiben zu lassen?

Wie auch immer, es ist gut, daß wir nicht alle Fragen beantworten müssen. Ich möchte nicht die Frage beantworten, welches die mir wichtigste einfache Wahrheit sein mag, die niemanden kränkt, deren Besitz wohl nicht alle glücklich, aber einige heiter machen könnte. Sie ist von Seneca ausgesprochen worden, mit der Delikatesse, die seine Sprache für uns angenommen hat: Qui potest mori non potest cogi. Zu deutsch vielleicht: Wer sich davonzumachen weiß, ist nicht bedrückbar. - (blum3)

Frage (4)

wenn ich,
ein mann ohne stern,
mit meinen puppen erfriere,
wer schmeißt mir
eine rose zu?

- (artm)

Frage (5) Alles Fragen ist ein Eindringen. Wo es als Mittel der Macht geübt wird, schneidet es wie ein Messer in den Leib des Gefragten. Es ist bekannt, was man da finden kann; man will es aber wirklich finden und berühren. Mit der Sicherheit eines Chirurgen geht man auf die inneren Organe los. Der Chirurg hält sein Opfer am Leben, um Genaueres über es zu erfahren. Er ist eine besondere Art von Chirurg, der bewußt mit lokaler Schmerzerregung arbeitet. Er reizt gewisse Partien des Opfers, um über andere Sicheres zu erfahren.   - (cane)

Frage (6) - Liebst du mich?
- Sie druckste.
- Ich habe etwas gefragt, beharrte er.
- Ich hab's gehört.
- Und?

Sie wollte nicht antworten. Nach einer Weile brachte Fred das Gespräch erneut auf das Thema.

- Würdest du sagen, daß du mich liebst?
- Was muß ich jetzt sagen?
- Du sollst etwas dazu sagen. Wozu sind wir zusammen, wenn du zu dem Kern der Angelegenheit nicht beiträgst. . .
- Aber sagen ?
- Liebst du mich oder nicht?
- Daß ich dich nicht liebe, würde ich ja nicht zugeben, so wie wir hier zusammen sind . . .
- Das ist keine Antwort. Ja oder nein ?
- Eine klare Antwort ?

Sie wollte Zeit gewinnen, schälte ihm einen Apfel und reichte ihm Stück für Stück. Die Frage lag ihr nicht.

- Liebst du mich? Sag?

Sie hätte ihn gern ironisch abgefertigt und überhörte die Frage, die durch Wiederholung zweifellos nicht gewann. Da er aber ernsthaft blieb, nach einer Antwort dringlich verlangte, äußerte sie sich so:

- Ich kann sagen, daß ich es lieber habe, wenn du da bist, als wenn du weg bist.
- Wo weg?
- Aus meiner Umgebung weg.
- Wie ein Hund ?
- Von dem würde ich das so nicht sagen.
- Aber irgendwie anders?  »Ich habe Fifi lieber da, als daß er weg wäre?«
- So ähnlich.

Fred war innerlich verletzt. Sie aber konnte sich nicht anders äußern. Auf eine Unwahrheit mehr oder weniger wäre es ihr in diesem Leben nicht angekommen. Aber das Wort Ich liebe dich hat eine magische Qualität. Man kann es im Leben, dachte sie, nur einmal sagen, und bei dieser Gelegenheit würde ich - da ich ja gar nicht »man« bin, - fügte sie hinzu - sicherlich aus Aberglauben gar nichts sagen, schon um das bißchen Liebe, das es gibt, nicht zu verscheuchen. - (klu)

Frage (7)  Ich frage nie. Ich habe auch vorher kaum etwas gefragt. Vielleicht ist es das gewesen, was zu der Trennung geführt hat? Mein Problem ist es oft, nicht fragen zu können. Dabei bestehe ich fast nur aus Fragen. Ich halte diese allerdings in der Regel für die falschen, und bringe sie nicht über die Lippen. Oder: es sträubt sich in mir etwas gegen jenes Fragen, das ein bloßes Ausfragen ist.  - Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1983)

Frage (8)  Newton hat die Farben zu scheiden gewußt, wie wird der Psycholog heißen, der uns sagen wird woraus die Ursachen unsrer Handlungen zusammengesetzt sind? Die meisten Dinge wenn sie uns merklich werden sind schon zu groß, ob ich den Keim in der Eichel mit dem Mikroskop oder den zoojährigen Baum mit bloßen Augen ansehe, so bin ich gleich weit vom Anfang. Das Mikroskop dient nur uns noch mehr zu verwirren. So weit wir mit unsern Tubis reichen können sehen wir Sonnen, um die sich wahrscheinlich Planeten drehen; daß in unsrer Erde so etwas vorgeht, davon überführt uns die Magnet-Nadel. Wie wenn sich dieses noch weiter erstreckte, wenn sich in dem kleinsten Sandkörnchen ebenso Stäubchen um Stäubchen drehten, die uns so zu ruhen scheinen, wie die Fixsterne? Es könnte ein Wesen geben, dem das uns sichtbare 'weltgebäude wie ein glühender Sandhaufen vorkäme. Die Milchstraße kann ein organischer Teil sein, inwieferne ließe sich die Vegetation aus diesem System erklären? Es gibt nur eine einzige grade Linie, aber eine unendliche Menge krummer, wenn sich also ein Körper bewegt, so läßt sich eine unendliche Summe gegen eins setzen, daß es eine krumme sei, und für jede Krümmung läßt sich ein Mittelpunkt angeben. Da sich eine zirkelförmige Bewegung in der Welt am längsten erhält, wie wir an den Planeten sehen, sowohl an ihren Bewegungen um die Achse als um die Sonne und Hauptplaneten, so könnte alle Bewegung in der Welt daher ihren Ursprung nehmen. Das Licht allein scheint hiervon eine Ausnahme zu machen, da es aber vermutlich schwer ist, so wird es doch gebogen. Da schon große Meßkünstler angenommen haben daß sich dieses ganze System um einen uns unsichtbaren Körper drehe, warum könnte unsere Erdkugel nicht ein solches System von Fixsternen sein? Hier sitzen wir in einer solchen Sandkugel. Unsere Erde ist uns freilich das Sonderbarste, so wie unsere Seele die sonderbarste Substanz, weil wir jene allein selbst bewohnen, und diese allein selbst sind. Wenn wir nur einen Augenblick einmal etwas anderes sein könnten. Was würde aus unserm Verstand werden, wenn alle Gegenstände das wirklich wären wofür wir sie halten?   - (licht)

Frage (9)  »Ein Narr fragt viel, worauf kein Weiser antwortet.« Das muß zweimal wahr sein. Fürs erste kann gar wohl der einfältigste Mensch eine Frage tun, worauf auch der weiseste keinen Bescheid zu geben weiß. Denn Fragen ist leichter als Antworten, wie Fordern oft leichter ist als Geben, Rufen leichter als Kommen. Fürs andere könnte manchmal der Weise wohl eine Antwort geben, aber er will nicht, weil die Frage einfältig ist oder wortwitzig, oder weil sie zur Unzeit kommt. Gar oft erkennt man ohne Mühe den einfältigen Menschen am Fragen und den verständigen am Schweigen. Da heißt es alsdann: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Von dem Doktor Luther verlangte einst jemand zu wissen, was wohl Gott vor Erschaffung der Welt die lange, lange Ewigkeit hindurch getan habe. Dem erwiderte der fromme und witzige Mann: In einem Birkenwald sei der liebe Gott gesessen und habe zur Bestrafung für solche Leute, die unnütze Fragen tun, Ruten geschnitten.   - (hebel)

Frage (10)

DER REGENBOGEN UND DAS KATAPLASMA

Wieviele Seminaristen passen auf einen Laufsteg?
Vier oder fünf?
Wieviele Achtelnoten hat ein singender Don Juan?
1.230.424
Diese Fragen sind einfach.
Ist eine Taste eine Laus?
Werde ich mich zwischen den Schenkeln meiner Geliebten erkälten?
Wird der Papst die schwangeren Frauen exkommunizieren?
Kann ein Polizist singen?
Sind Nilpferde glücklich?
Sind Päderasten Matrosen?
Und diese Fragen, sind die auch einfach?
In wenigen Augenblicken werden Hand in Hand
auf der Straße zwei Spucken entlangkommen
die an der Hand eine Klasse taubstummer Kinder führen.
War es unhöflich wenn ich ihnen ein Klavier kotzte
von meinem Balkon?

- (bun)

Frage (11) Verwirrt stand Richter Di auf und sagte mit einer tiefen Verbeugung:

«Wenn diese Person wagen dürfte, eine Frage zu stellen...»

Auch sein Gastgeber hatte sich erhoben.

«Eine Frage», antwortete er barsch, «führt nur zu einer andern Frage. Sie sind wie ein Fischer, der seinem Fluß und seinen Netzen den Rücken zukehrt und auf einen Baum im Walde steigt, um Fische zu fangen. Oder wie ein Mann, der ein Boot aus Eisen baut und in den Boden ein großes Loch bohrt und sich dann der Erwartung hingibt, über den Fluß fahren zu können. Gehen Sie an Ihre Probleme von der richtigen Seite heran und fangen Sie mit den Antworten an. Dann werden Sie vielleicht eines Tages die endgültige Antwort finden. Leben Sie wohl!  - Robert van Gulik, Mord im Labyrinth. Zürich 1985

Frage (12)  Die Antwort eines anderen, selbst wenn sie auf eine Frage zuträfe, die man selbst gestellt habe, bliebe immer eine fremde Antwort und helfe einem im Grunde nicht weiter, sondern führe einen immer mehr in die Irre, wo man schon bald nicht mehr die Hand vor den eigenen Augen erkenne und froh sei, wenn ein Wegweiser auftauche, der einem die Richtung zum umzäunten Bretterverschlag des nächsten Lagers zeige.

Dennoch habe man sich mittlerweile angewöhnt, immer nur Antworten von anderen zu verlangen. Dabei seien diese Antworten meistens ohnehin nichts anderes als Lügen, böswillige Lügen oder Lügen aus Unwissenheit, was jedoch für den Fragenden keinen wirklichen Unterschied mache. Es sei lediglich ein moralischer Unterschied und an diesen moralischen Unterschied klammere man sich und verschwende seine Zeit damit herauszufinden, ob man aus Böswilligkeit oder Unwissenheit belogen worden sei, obwohl das, wie gesagt, keinen Unterschied mache. Diese Beschäftigung aber lenke von dem ab, was tatsächlich wichtig sei, nämlich selbst auf eine Antwort zu kommen, selbst herauszufinden, wie man die Fragen lösen könne, die man bislang nur anderen gestellt habe. - (rev)

Frage (13) Nicht, daß die Silben je klar gewesen wären, aber sie waren doch artikuliert, wenn auch ungeschickt, während sie jetzt wenig mehr sind als das ständig modulierende Syllabieren einer Klage, die uns als Frage erscheint. Gut - aber wenn du die Frage hörst, wirst du dir doch wieder auch jene andere Frage stellen: ist dies eine Frage an sich oder ist sie eine Frage, weil du sie als solche erkennst? Im ersteren Fall wäre sie, diese Frage, auf eine Art gestellt, daß man die Gewährung einer Antwort für möglich halten könnte; wie aber wäre in einem solchen Fall die Antwort formuliert? In welcher Gestalt der Rede? Das wird genügen, um zu zeigen, wie schlecht das Problem gestellt ist; tatsächlich ist die Frage deshalb eine Frage, weil sie jene spezifische Modulation aufweist, und obwohl es möglich ist, daß die Frage darum weiß, eine Frage zu sein, wäre es auch vernünftig zu glauben, daß die Frage nur deshalb eine Frage ist, weil du, nächtlicher Hörer, zu jener Welt der Befragung gehörst, wo diese Modulation einen Sinn hat; aber daß es eine Antwort geben soll, mutet unsinnig an, denn um für die Frage verständlich zu sein, müßte die Antwort auf derselben verbalen Ebene erfolgen wie die Frage, und auf dieser Ebene kann es offensichtlich nur eine Frage geben aber auf keinen Fall eine Antwort. Die Frage ist zwar eine Modulation der Klage, aber sie enthält, wenn auch mit Mühe, eine verbale Absicht, die scharfsinnig und intensiv erscheint, wenn auch völlig vergeblich -ein weiteres Beispiel für jenes leere Geschwätz, dem du dein hingebungsvolles Ohr leihst. Doch wenn die Frage objektiv eine Frage ist - nimmst du dann an der Befragung teil oder bleibst du ihr fern? Bist du nur der Hörer - derjenige, der die fragende Eigenschaft bestätigt - oder bewirkt gerade deine Bestätigung, daß du in die Geschwindigkeit der Befragung hineingezogen wirst, so daß du selbst in Versuchung gerätst zu fragen? Oder ist es nicht eher deine eigene, an die Stimme der Frage gerichtete Frage, wie um zu sagen, ich befrage dich, weil ich wissen möchte, was die Frage ist, die ich im übrigen als solche höre? Auf jeden Fall aber ist die Frage deshalb eine Frage, weil sie in jener Weise geformt ist, und deshalb wird auch deine Frage - sei sie nun an die Frage gerichtet oder nicht - genauso fragend sein wie die andere, denn als Teilhaber an ihrer phonischen Eigenschaft - der fragenden Modulation - sind beide sie selbst. Kurzum, wenn die Frage eine Frage bliebe, wenn sie nur fragte und sonst nichts - zufrieden, fragend zu sein und vielleicht dank deines Zuhörens irgendein Bewußtsein erlangt zu haben, eine fragende Frage zu sein; wenn sie darauf beharrte, klagend, nörgelnd, faselnd, ungenau, allgemein, feige, aufdringlich, kindisch und repetitiv zu sein - ja, dann könnte die Frage tolerant sein; und du, wenn du die alte Angst einmal abgelegt hättest, könntest dich möglicherweise darauf einrichten, an diesem Ort zu verharren, dem die Frage ebenso wesensverwandt zu sein scheint wie die Nacht. - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
 

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Fragen