artezimmerlektüre  Stühle mit hohen schwarzen Lehnen umzäunten einen ovalen Sitzungstisch, in dessen schwarzer Platte ich mein Spiegelbild erblickte, wie es erst fünfzig Jahre später aussehen dürfte: Sämtliche Linien zeigten abwärts, die Augen hingen schlapp.

Ich wandte mich den Lesestoffen zu, die Doktor EU für seine Kranken auf einem Nebentisch auslegte, ich hoffte auf ein Witzblatt, eine Modenzeitung, ein Liebesmagazin. Es waren Statistiken darüber, an welchen Krankheiten die Weltbevölkerung im letzten Jahr prozentual gestorben war, wieviele Leute verhungern mußten, wieviele eingesperrt, gefoltert, hingerichtet, bei Bombenanschlägen zerrissen und bei Verkehrsunfällen getötet Worden waren, und daß die Zahlen angestiegen seien. Die einzige Illustrierte zeigte ausschließlich Massaker. Ein wissenschaftliches Organ bewies anhand von Röntgen-Fotos, daß die Entwicklung des Menschen zum Insekt bereits begonnen hatte.

Der Raum war trüb beleuchtet, von seiner schwarzen Decke baumelte eine nackte Birne, die hin und wieder knisterte, erlosch und wieder knisterte und schwächer weiterbrannte. Trotzdem erkannte ich, daß die Tapeten, weinrot und dunkelviolett, in Fetzen hingen und alte Zeitungen zum Vorschein brachten. Da konnte ich mich nicht beherrschen und riß an der Tapete wie an verbrannter Haut. Doch als ich feststellte, daß jene Zeitungen nur Schreckensnachrichten enthielten, gab ich es auf.

Die Birne knisterte erneut, ein Rauchfaden zog aus dem Kabel, es roch nach Schmorgummi, und plötzlich rannte eine Ratte unterm Tisch hervor, sie klappte ihren Bauch auf, ließ einen Zettel fallen Ich wünsche, daß die Welt so bald wie möglich untergeht, aber ästhetisch wertvoll.  - Johanna Braun, Günter Braun: Doktor EU. In: Phantastische Aussichten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1985  (Phantastische Bibliothek 160)