erschwundene Ich
hielt es für einen schier unmöglichen Tatbestand, daß jemand auf dieser Welt
verschwinden könne, alle anderen aber nahmen
dies mit merkwürdiger Ruhe hin. Ihre Besorgnis über solche Fälle war nicht zu
leugnen, doch fragten sie nie danach, was sie in Wirklichkeit zu bedeuten hatten.
Wenn es von einem Menschen, der ihnen vielleicht vor wenigen Tagen noch begegnet
war, plötzlich hieß, daß er verschwunden sei, dann fragten sie sich keineswegs,
ob damit nicht etwas Ungeheuerliches nur auf das Ungenaueste beschrieben war,
ob damit nicht verschleiert wurde, daß das Geschick
der Verschwundenen in der Hand einer Macht lag, gegen die man nichts ausrichten
konnte . . . ich begriff es noch weniger, als ich bemerkte, daß in den offiziellen
Meldungen, die diese Vorkommnisse betrafen, niemals von Verschwundenen die Rede
war: darin hießen sie die Gesuchten. Um so abstrakter schienen diese Dinge für
die Allgemeinheit zu werden, niemand schien zu wissen, was genau damit ausgedrückt
war, wenn jemand gesucht wurde oder verschwand, ob beides vielleicht dasselbe
ausdrückte, oder ob das erstere das zweite bedingte ... nach kurzer Zeit verlor
kein Mensch mehr ein Wort darüber, es war, als habe man sich darauf verständigt,
daß es die Verschwundenen gar nicht gegeben hatte; wenn es hieß, daß jemand
gesucht werde, so war dies die abschließende Feststellung, daß er vom nämlichen
Augenblick an nicht mehr wiedergefunden werden könne. Ich wollte mich damit
nicht zufriedengeben - besonders, weil es der Übertretung eines Verbots gleichzukommen
schien, wenn man an einen der Gesuchten weiter dachte, oder gar noch von ihm
sprach -, für mich war es ausgemacht, daß die Verschwundenen dennoch auf irgendeine
Art weiter existierten, und der Beweis lag für mich darin, daß, wie ich hörte,
plötzlich auch die gesucht wurden, die von den Verschwundenen noch etwas wissen
wollten. Die Verschwundenen existierten dort weiter, wo der Ort des Verschwin-dens
war . . . wenn ich einst selbst verschwand, so würde dies zweifellos der Fall
sein, sagte ich mir; wenn ich mich in meiner Vorstellung verschwinden sah, existierte
ich ungebrochen weiter, nur in einem anderen Territorium, innerhalb eines anderen
Zustands, innerhalb einer unbekannten Realität; und so war eines Menschen, den
man als Verschwundenen titulierte, ohne Zweifel
ganz besonders zu denken, es war an ihn zu denken, wie an ein besseres Selbst,
das verloren war.
- Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main 1991
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