erluderung Mir
geht es heute miserabel. Vollkommen dezentralisiert, überarbeitet, verludert.
Es ist kein Leben dies tägliche Schmieren u. Spritzen u. Quacksalbern u. abends
so müde sein, daß man heulen könnte. Aber wenn ich mir vorstelle, was ich machen
sollte, weiß ich es auch nicht. Den Laden verkaufen u. fortgehn! Aber wohin?
In Frage kommt nur [ein] warmes Land, aber der Süden
hat Devisen, die nicht bezahlbar sind. Oder die Zahl der Sprechstunden einschränken,
aber entweder man hat eine Praxis, dann kann man sie nicht beschränken, ohne
sie ganz zu ruinieren, oder man hat keine. Oder die ganze Passauerstraße zum
Deibel jagen, aber eine Tochter kann man nicht zum Deibel jagen, wenngleich
- ja, wenngleich, aber immerhin. Oder eine Arbeit anfangen, ein Stück, eine
Novelle, aber wozu, für wen, worüber, alles so erledigt, ausgepowert, abgeknabbert
u. schließlich kotzt man vor sich selber, vor der Methode
seiner eigenen Gedanken, seiner produktiven Technik, kurz: der Mechanik des
Genialen. Wobei ich nicht sage, was ich betonen möchte, daß ich etwa Geniales
schriebe. Ich meine: auch das Spontane ist methodisch u. Prometheus pedantisch
mit seinen Geiern u. sonstigen Ungeziefer u. eine unerträgliche Figur. Und Arbeiten
an seinen eigenen Sachen macht in einer Weise müde des Morgens, verdirbt den
Appetit, belegt die Zunge, ruiniert den Magen, macht mürrisch u. depressiv,
wie es sich einer nicht leisten kann, der von morgens 8 Uhr an höflich u. nichtssagend
seine Schmutzfinken von Patienten
empfangen muß. -
Gottfried Benn
an Gertrud Zenzes, 29.12.1921. In: G.B., Das gezeichnete Ich. Briefe aus
den Jahren 1900-1956. München 1962 (dtv 89)
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