atient  Als die Journalistin Karin Obholzer Freuds berühmtesten und längst in die Weltliteratur eingegangenen Patienten, den Wolfsmann, leibhaftig und lebendig antrifft, muß sie feststellen, daß er sich immer noch in den Händen der Analytiker befindet. Sie erkundigt sich, ob sein gegenwärtiger Seelsorger sich seine Träume erzählen lasse. Antwort: Er hat doch nicht so viel Zeit. Und hinzugefügt mit der Altersweisheit eines lebenslangen Patienten: Die Psychoanalyse hätte was für sich, wenn die Psychoanalytiker Götter wären. Gefragt, ob denn wohl Freud selbst ihm heute helfen könnte, hatte er verneint. - (blum3)

 Patient (2)  «Du glaubst, daß sie krank sind?... Das seufzt... das rülpst... das wackelt... das eitert... Willst du dein Wartezimmer leer haben? Im Nu? Selbst von jenen, die fast dran ersticken, wenn sie ihren Schleim herauskriegen wollen?... Schlag ihnen mal eine Kinovorstellung vor!... Einen Gratisschnaps im Café gegenüber!... Du wirst sehen, wie viele bei dir bleiben... Wenn sie kommen und dich behelligen, dann in erster Linie, weil sie sich langweilen. Am Tag vor einem Feiertag siehst du keinen einzigen bei dir... Den Unglücklichen fehlt die Beschäftigung und nicht die Gesundheit, das ist meine Ansicht... Sie wollen, daß du sie zerstreust, sie belustigst, sie neugierig machst, mit ihrem Aufstoßen ... ihren Gasen... ihrem Gliederkrachen... daß du bei ihnen Fieberzustände ... Schlucken... Gurgeln... noch nie dagewesene Dinge entdeckst... daß du dich ausgibst... dich ereiferst... Dazu hast du doch dein Diplom... Ach! sich mit seinem Tod amüsieren, während man ihn gleichzeitig fabriziert, das ist der Mensch, wie er leibt und lebt, Ferdinand! Sie werden ihren Tripper, ihre Syphilis, all ihre Tuberkeln behalten. Sie brauchen sie! Und ihre schleimige Blase, ihren brennenden After, das alles ist nicht wichtig! Gibst du dir aber genug Mühe, verstehst du es, sie zu interessieren, so werden sie mit dem Sterben auf dich warten, das ist deine Belohnung! Sie werden dich bis ans Ende unentwegt behelligen.»  - (tod)

Patient (3)    Schizophren werde man, wenn die anderen einem anders begegneten, als sie dächten. Insgeheim redet man über einen wie über einen Wahnsinnigen, ins Gesicht hinein tut man so, als hielte man einen für normal. Da unsereins beides wahrnimmt, ist eine Verwirrung die Folge, eine nichts verschonende Desorientierung.

Ich wußte überhaupt nicht, wie ich mich verhalten, was ich sagen sollte. Hans Lach sagte dann plötzlich Sätze, die aus einem Gespräch zu stammen schienen, von dem wir nichts wußten, an dem er aber in diesem Augenblick teilnahm. Und was immer er sagte, er sagte es zu laut. Er hatte offenbar überhaupt kein Gefühl für die Größe des Raums, in dem er sprach. Er sprach nicht, er rief. Er fühlte sich oder uns offenbar weit weg. Nein, Herr Dr. Weißkopf, sagte er, morgen noch nicht, aber übermorgen sicher, wenn ich noch lebe. Es gibt Arschlöcher hier, die wollen mich so lange an allem hindern, bis ich in ihre Blumentöpfe passe.

Jetzt erst fiel mir auf, wie braungebrannt, wie wohl Dr. Swo-boda aussah und wie elend Hans Lach. Eigentlich sah er gefoltert aus. Plötzlich fing sein beträchtlicher Unterkiefer an zu zittern, zu mahlen, zu beben. Und gleich wieder völlig ruhig. Diskynesie, Akinese, sagte er. Von den Neuroleptika, die mir hier eingeflößt werden wie Hamlets Vater das Gift, nämlich im Schlaf. Leponex, Michel, von dem jeder weiß, daß es so ganz nebenbei Parkinson produziert. Dr. Swoboda rief: Eben nicht!

Er bringt wieder alles durcheinander. Er könne schon nicht mehr die Zähne putzen, rief Hans Lach, ohne daß seine Zunge sich gegen ihn wende. Und wenn er nicht noch heute Akineton bekomme, müsse er sich umbringen. Dr. Swoboda rief jetzt: Moment, Herr Lach, Akineton ist ein Mittel gegen Nebenwirkungen bei der Einnahme von Meresa, Hatdol und anderen Neuroleptika. Sie weigern sich, Neuroleptika einzunehmen, die Ihnen helfen würden, und Akineton ohne vorherige Neu-roleptikagabe produziert Psychosen.

Plötzlich holte Hans Lach dann den Rucksack auf seine Knie, kramte, brachte ein wattiertes Kuvert heraus, das gab er mir. Da Michel, sagte er, falls Sie zurückfinden auf meine Seite. Ich wollte etwas sagen, aber das ließ er nicht zu. Don't talk to a tortured, sagte er. Er fliege weg, sobald seine Unschuld erwiesen sei. Den Widerruf seines Geständnisses habe er mir auf Band gesprochen, und einiges mehr. Am wichtigsten sei ihm der Mani-Text. Den brauche er, sobald er hier rauskomme. Dann nach Israel, zu Dr. Weißkopf, und von dort nach Australien, Melbourne.

Ich werde mich Ihren Vorschlägen fügen, sagte Dr. Swoboda, sagen wir zweiundsiebzig Stunden lang werde ich jetzt mit Ihnen umgehen, als seien Sie momentan ein kleines bißchen psychotisch dekompensiert, mehr nicht. Mal sehen, ob Sie sich dann wohler fühlen bei uns.

Bravo, Doktor, rief Hans Lach und stand auf. Pfiff durch die Finger, der Pfleger trabte herein. Servus, Michel, jetzt hängt also alles von Ihnen ab. Geben Sie von den Tonband-Abschriften Kopien an Julia Pelz-Pilgrim weiter. Ludwig geht es sehr schlecht.

Ich weiß, sagte ich, um endlich auch etwas zu sagen. Aber Sie wissen nicht, warum! Erster Pfleger, weghören! Oder noch besser, hinaus! Ich pfeif dann.

Der Pfleger schaute den Doktor an, der nickte. Im nächstn Lewn wer' i Patient, sagte der Pfleger und trabte hinaus.  - Martin Walser, Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002

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