Stadtleben  «Auch das Stadtleben hat seine schätzenswerten Seiten», bemerkte Giulio sehnsüchtig. Und er erinnerte an gewisse Viertel in den großen brasilianischen Städten, die ausschließlich für die Liebe geschaffen waren: Hunderte von Metern lange Straßen, flankiert von kleinen Holzhäusern; in jedem dieser Häuschen kann man, sobald man sie betritt, Liebe kaufen; man läuft keine Gefahr, hereinzufallen und auf eine anständige Frau zu stoßen. Er beschrieb die schwarzen Dirnen, die am Anfang schüchtern, aber dann bei der Ausübung ihrer Kunst glühend und geschickt waren. Sie spazieren, alle weiß gekleidet, in der Nacht durch die dunklen Straßen; das braune Gesicht und die schwarzen Hände bemerkt man in der Dunkelheit nicht; man bemerkt nur ein weißes Gewand, das sich fortbewegt und, wenn es sich verfolgt sieht, den Schritt verlangsamt und stehenbleibt: plötzlich bricht aus dem dunklen unsichtbaren Gesicht eine Illumination blendend weißer Zähne hervor.  - Pitigrilli, Der falsche Weg. Reinbek bei Hamburg 1988

Stadtleben (2)  Zahlreicher denn je belebten die Liebesdiener und -dienerinnen mit ihrem bunten Anblick die Straßen. Ich erinnere mich, daß ich sogar einem jener leichtlebigen Burschen zulächelte, der seine Tunika bis zur Taille aufgeschürzt hatte und seine haarlosen, mit Bändern geschmückten Beine zeigte. Die Freudenmädchen, die gemäß der neuen Mode ihre entblößte Brust in ein glänzendes Mieder eingeschnürt hatten, flanierten unbeschwert dahin und verströmten ihr aufdringliches Parfüm. Ein alter Kuppler stand aufrecht auf seinem Wagen und drehte wie ein Segel eine dünne Zinnplatte hin und her, auf der mit entsprechenden Zeichnungen monströse Liebesvereinigungen von Tieren angekündigt wurden: Begattung zwischen Krokodilen und Schwänen, ein Affe mit einem Seehund, ein Mädchen unter dem berauschenden Schmuck eines Pfaus. Ein wunderbares Plakat, meiner Treu! Dazu wurde die Echtheit garantiert. Die Tiere waren durch Gott weiß welche barbarische Zauberei dressiert und mit Opium und Stinkasant aufgereizt worden.

Von drei maskierten Burschen gefolgt, kam ein freundlich grüßender Neger vorbei, der in den Innenhöfen der Häuser mit farbigem Pulver geheime Szenen darstellte. Dabei vollführte er rhythmische Tanzbewegungen. Auch verstand er es, mit Hilfe von Auripigment Haare zu entfernen und konnte Nägel vergolden. Ein aufgedunsener Mann, dessen weichliches Aussehen leicht den Eunuchen erkennen ließ, pries mit Bronzekastagnetten Bettdecken an, die durch ein besonderes Gewebe Schlaflosigkeit und sinnliches Verlangen erzeugten. Die ehrbaren Bürger hatten die Abschaffung solcher Decken gefordert. Ja, in meiner Stadt wußte man zu leben und zu genießen.    - Leopoldo Lugones, Der Feuerregen. In: L. L., Die Salzsäule. Stuttgart 1984 (Die Bibliothek von Babel 15, Hg. Jorge Luis Borges)

 

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