Stadtmarathon   De Vriend beugte sich aus dem Fenster und sah, wie das Schwein rechts an der Ecke zur Rue du Vieux Marché aux Grains, einigen Passanten ausweichend, beinahe vor ein Taxi lief.

Kai-Uwe Frigge, von der Notbremsung nach vorn geworfen, fiel in den Sitz zurück. Er verzog das Gesicht. Er kam zu spät. Er war genervt. Was war jetzt wieder los? Er war nicht wirklich zu spät, es war nur so, dass er bei einem Treffen immer Wert darauflegte, zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit da zu sein, vor allem an Regentagen, um sich auf der Toilette noch schnell wieder in Ordnung zu bringen, das regennasse Haar, die beschlagene Brille, bevor die Person kam, mit der er verabredet war -

Ein Schwein! Haben Sie das gesehen, Monsieur?, rief der Taxifahrer. Springt mir fast vor den Wagen! Er beugte sich weit über das Lenkrad: Da! Da! Sehen Sie es? Jetzt sah es Kai-Uwe Frigge. Er wischte mit dem Handrücken über die Scheibe, das Schwein lief seitlich weg, schmutzig rosa glänzte der nasse Leib des Tiers im Licht der Laternen. Wir sind da, Monsieur! Näher kann ich nicht ranfahren. Also so was! Läuft mir ein Schwein fast in den Wagen! Schwein gehabt, kann ich da nur sagen!

Fenia Xenopoulou saß im Restaurant Menelas am ersten Tisch neben dem großen Fenster mit Blick über den Platz. Sie ärgerte sich, dass sie viel zu früh gekommen war. Das war nicht souverän, wenn sie schon wartend dasaß, wenn er kam. Sie war nervös. Sie hatte befürchtet, dass es wegen des Regens einen Stau geben würde, sie hatte zu viel Wegzeit einkalkuliert. Nun saß sie bereits beim zweiten Ouzo. Der Kellner umschwirrte sie wie eine lästige Wespe. Sie starrte das Glas an und befahl sich, es nicht anzurühren. Der Kellner brachte eine Karaffe mit frischem Wasser. Dann brachte er einen kleinen Teller mit Oliven - und sagte: Ein Schwein!

Wie bitte? Fenia blickte auf, sah, dass der Kellner gebannt auf den Platz hinausschaute, und nun sah sie es: Das Schwein lief auf das Restaurant zu, in einem lächerlichen Galopp, diese kurzen vor und zurück schwingenden Beinchen unter dem runden schweren Körper. Sie dachte zuerst, das sei ein Hund, eines von diesen abstoßenden Biestern, die von Witwen gemästet werden, aber - nein, es war tatsächlich ein Schwein! , Fast wie aus einem Bilderbuch, sie sah den Rüssel, die Ohren als Linien, als Konturen, so zeichnet man für Kinder ein Schwein, aber dieses schien aus einem Horrorkinderbuch entsprungen. Es war kein Wildschwein, es war ein verdreck-tes, aber eindeutig rosa Hausschwein, das etwas Irres hatte, etwas Bedrohliches. Am Fenster lief das Regenwasser herunter, verschwommen sah Fenia Xenopoulou, wie das Schwein plötzlich vor einigen Passanten abbremste, die Beinchen durchgestreckt, es rutschte, warf sich zur Seite, knickte ein, gewann wieder Boden und galoppierte zurück, nun in Richtung Hotel Atlas. In diesem Moment verließ Ryszard Oswiecki das Hotel. Schon beim Verlassen des Lifts, während er das Hotelfoyer durchquerte, hatte er sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen, nun trat er hinaus in den Regen, eilig, aber nicht zu schnell, er wollte nicht auffallen. Der Regen war ein Glück: Kapuze, eiliger Schritt, das war unter diesen Gegebenheiten völlig normal und unauffällig. Niemand sollte später aussagen können, er habe einen Mann flüchten sehen, etwa so alt, schätzungsweise so groß, und die Farbe der Jacke —natürlich, die wisse er auch noch ... Rasch wandte er sich nach rechts, da hörte er aufgeregte Rufe, einen Schrei und ein seltsam quietschendes Keuchen. Er hielt kurz inne, schaute zurück. Jetzt bemerkte er das Schwein. Er konnte nicht glauben, was er sah. Da stand ein Schwein zwischen zwei dieser schmiedeeisernen Pfosten, die den Vorplatz des Hotels säumten, es stand da mit gesenktem Kopf, in der Haltung eines Stiers, bevor er zum Angriff übergeht, es hatte etwas Lächerliches, zugleich doch Bedrohliches. Es war völlig rätselhaft: Woher kam dieses Schwein, wieso stand es da? Ryszard Os-wiecki hatte den Eindruck, dass alles Leben auf diesem Platz, zumindest soweit er ihn nun überblickte, erstarrt und eingefroren war, die kleinen Augen des Tiers reflektierten schimmernd das Neonlicht der Hotelfassade - da begann Ryszard Oswiecki zu laufen! Er lief nach rechts weg, blickte nochmals zurück, das Schwein riss schnaufend den Schädel hoch, machte ein paar kleine Schritte rückwärts, drehte sich um und rannte quer über den Platz, hinüber zu der Baumreihe vor dem Flämischen Kulturzentrum De Markten. Die Passanten, die die Szene beobachtet hatten, sahen dem Schwein nach und nicht dem Mann mit der Kapuze - und jetzt sah Martin Susman das Tier. Er wohnte in dem Haus neben dem Hotel Atlas, öffnete just in diesem Moment das Fenster, um zu lüften, und traute seinen Augen nicht: Das sah aus wie ein Schwein! Er hatte gerade über sein Leben nachgedacht, über die Zufälle, die dazu geführt hatten, dass er, ein Kind Österreichischer Bauern, nun in Brüssel lebre und arbeitete, er war in einer Stimmung, in der ihm alles verrückt und fremd erschien, aber ein frei laufendes Schwein da unten auf dem Platz, das war allzu verrückt, das konnte nur ein Streich seiner Phantasie sein, eine Projektion seiner Erinnerungen! Er schaute, aber er sah das Schwein nicht mehr.

Das Schwein lief auf die Kirche Sainte-Cathérine zu, querte die Rue Sainte-Cathérine, hielt sich links, den Touristen ausweichend, die aus der Kirche kamen, lief an der Kirche vorbei zum Quai aux Briques, die Touristen lachten, sie hielten wohl das gestresste, fast schon kollabierende Tier für Folklore, für irgendein lokales Phänomen. Manche würden später im Reiseführer suchen, ob es dazu eine Erklärung gab. Werden nicht im spanischen Pamplona an irgendeinem Feiertag Stiere durch die Straßen der Stadt getrieben? Vielleicht macht man das in Brüssel mit Schweinen? Wenn man das Unbegreifliche dort erlebt, wo man gar nicht erwartet, alles zu verstehen — wie heiter ist dann das Leben.

In diesem Moment bog Gouda Mustafa um die Ecke und stieß fast mit dem Schwein zusammen. Fast? Hatte es ihn nicht doch berührt, sein Bein gestreift? Ein Schwein? Gouda Mustafa sprang in Panik zur Seite, verlor das Gleichgewicht und fiel. Nun lag er in einer Pfütze, wälzte sich herum, was die Sache noch schlimmer machte, aber es war nicht der Dreck der Gosse, es war die Berührung, wenn es denn überhaupt eine gewesen war, mit dem unreinen Tier, durch die er sich beschmutzt fühlte.  - Robert Menasse, Die Hauptstadt. Berlin 2010

Laufen


Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme