Sonnentau   Die angestrengte, eintönige Beobachtung birgt die Gefahr von Visionen, wie jeder weiß, der im Schnee oder in der Wüste ein Ziel verfolgte oder der endlose, schnurgerade Straßen befuhr. Wir beginnen zu träumen; die Bilder gewinnen Macht über uns. - - -

»Der Sonnentau ist also doch eine fleischfressende Pflanze, ein kannibalisches Gewächs.«

Warum mochte ich das gedacht haben? Es kam mir vor, als hätte ich die roten, mit klebrigen Fangnäpfen befransten Blätter in riesiger Vergrößerung gesehen. Ein Wärter warf ihnen Futter vor.

Ich rieb mir die Augen. Ein Traumbild hatte mich genarrt in diesem Garten, in dem das Winzige groß wurde. Aber zugleich hörte ich ein Signal in meinem Inneren wie einen Wecker, wie die Alarmglocke eines Wagens, der mit brutaler Geschwindigkeit näher kommt. Ich mußte etwas Unerlaubtes, etwas Schändliches gesehen haben, das mich erschreckt hatte.

Hier war ein übler Ort. In großer Bestürzung sprang ich auf, zum erstenmal, seitdem ich mich gesetzt hatte, und visierte das Sumpfloch an. Der Rauchgraue war wieder näher gekommen; er hörte auf zu pendeln und umkreiste mich mit ausgeschwenkten Fühlhörnern. Ich achtete nicht auf ihn. Mich fesselte das Bild, auf das er meinen Blick geführt hatte wie ein Vorstehhund auf die Rebhühner.

Der Sonnentau war winzig wie zuvor. Eine Mücke war schon eine gute Mahlzeit für ihn. Doch neben ihm im Wasser lag ein roter obszöner Gegenstand. Ich faßte ihn scharf in das Glas. Jetzt war ich hellwach; es konnte kein Augentrug sein.

Das Sumpfloch war von Schilfhalmen umgittert, durch deren Lük-ken ich die braune, moorige Pfütze sah. Blätter von Wasserpflanzen bildeten darauf ein Mosaik. Auf einem dieser Blätter lag der obszöne Gegenstand; er hob sich klar von ihm ab. Ich prüfte ihn noch einmal, aber es konnte kein Zweifel bleiben: es war ein menschliches Ohr.

Hier war kein Irrtum möglich: ein abgeschnittenes Ohr. Und ebensowenig war zu bestreiten, daß ich bei klarem Verstande, in ungetrübter Urteilskraft war. Ich hatte weder Wein getrunken noch eine Droge eingenommen, nicht einmal eine Zigarette geraucht. Ich hatte seit langem, schon meiner leeren Taschen wegen, auf das nüchternste gelebt. Auch zähle ich nicht zu den Leuten, die, wie Caretti, plötzlich dies oder jenes sehen.

Ich begann nun, das Sumpfloch methodisch und mit sich steigerndem Entsetzen abzusuchen: es war mit Ohren besät! Ich unterschied große und kleine, zierliche und grobe Ohren, und alle waren mit scharfen Schnitten abgetrennt. Einige lagen auf den Blättern der Wasserpflanzen wie das erste, das ich bei der Verfolgung des Rauchkopfes entdeckt hatte. Andere waren halb von den Blättern verdeckt, und wiederum andere schimmerten undeutlich durch das braune Moorwasser.    - Ernst Jünger, Gläserne Bienen. In: E. J., Ausgewählte Erzählungen, Stuttgart 1985 (zuerst 1957)

Pflanze, fleischfressende

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