Sich verstehen   Sehr lange schon hatte ich mich mit Nadja nicht mehr verstanden. Offen gesagt, wir haben uns vielleicht nie verstanden, wenigstens nicht in der Art und Weise, wie die einfachen Existenzfragen ins Auge zu fassen seien. Sie hatte sich ein für allemal dafür entschieden, darauf keinen Wert zu legen, die Zeit nicht zu beachten, keinen Unterschied zu machen zwischen den überflüssigen Äußerungen, die sie zeitweise von sich geben konnte, und jenen anderen, auf die es mir so sehr ankam, sich in keiner Weise um meine vorübergehenden Stimmungen zu bekümmern oder um meine mehr oder weniger große Schwierigkeit, ihr die schlimmsten Zerstreuungen hingehen zu lassen. Sie war es sich nicht leid, wie ich schon gesagt habe, mir die kläglichsten Wechselfälle ihres Lebens in allen Einzelheiten zu erzählen, sich dann und wann unangebrachten Koketterien hinzugeben, mich zu zwingen, mit stark gerunzelten Brauen zu warten, bis sie von selbst zu anderen Übungen überging, denn es handelte sich ganz gewiß nicht darum, daß sie natürlich wurde. Wie oft, wenn ich es schon aufgab, wenn ich daran verzweifelte, sie wieder zu einer entsprechenden Auffassung von ihrem Wert zu bringen, ergriff ich fast die Flucht - und fand sie tags darauf genau so wieder, wie sie war, wenn sie nicht selbst verzweifelte, mit Vorwürfen über meine Härte und für sich Verzeihung erbittendI Mit diesen Erbärmlichkeiten, es muß gesagt werden, verschonte sie mich jedoch immer weniger, und es ging schließlich nicht ohne heftige Auseinandersetzungen ab, die dadurch ernster wurden, daß sie ihnen unbedeutende, nichtvorhandene Motive unterschob. All das, was es möglich macht, vom Leben eines Wesens zu leben, ohne je mehr von ihm zu verlangen, als es gibt; daß es viel und genug ist, zuzusehen, wie es sich bewegt oder unbeweglich verharrt, spricht oder schweigt, wacht oder schläft, das war auch auf meiner Seite nicht vorhanden, war nie vorhanden gewesen: das war nur zu sicher. Es konnte gar nicht anders sein, wenn man die Welt Nadjas, die die ihre war, in Betracht zieht, in der alles so schnell nach Aufflug und nach Sturz aussah. Aber ich urteile a posteriori, und es ist gewagt, wenn ich sage, daß es nicht anders sein konnte. So sehr ich das Verlangen danach hatte, und etwa auch die Illusion, ich bin vielleicht nicht auf der Höhe dessen gewesen, was sie mir vorschlug. Was schlug sie mir aber vor? Was immer, nur die Liebe in dem Sinne, wie ich sie verstehe — also die geheimnisvolle, die unwahrscheinliche, die einzige, die bestürzende und die sichere Liebe —, so wie sie jeder Prüfung standhält endlich, hätte hier ein Wunder möglich gemacht.  - (nad)
 

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