Selbstmörder, egoistische   Zur Nacht blieben sie im Gemeindehaus. In demselben Gemeindehaus befand sich zufällig auch der Leichnam, die Leiche des Versicherungsagenten der Kreisverwaltung Lcsnizkij, der vor drei Tagen nach Syrnja gekommen und im Gemeindehaus abgestiegen war, wo er sich, nachdem er einen Samowar bestellt, völlig unverhofft für alle erschossen hatte; und der Umstand, daß er sich so sonderbar das Leben beim Samowar genommen, wobei er seinen Imbiß auf dem Tisch aufgestellt hatte, war für viele Anlaß gewesen, hierbei einen Mordverdacht zu äußern; und somit war eine Obduktion notwendig geworden.

Der Doktor und der Untersuchungsrichter schüttelten im Hausflur, mit den Füßen stampfend, den Schnee ab; neben ihnen aber stand der PoKzcikommissar des Dorfes, Ilja Loscha-düi, ein alter Mann, und leuchtete ihnen, wobei er ein Blech-lämpchen in der Hand hielt. Es roch stark nach Petroleum. »Wer bist du;« fragte der Doktor. »Komtsar...«, entgegnete der Polizeikommissar, Er pflegte auch auf der Post so zu unterschreiben: Komtsar. »Und wo sind die Ortszeugen.?«

»Wahrscheinlich gegangen, Tee trinken, Euer Hochwohl-geboren.«

Rechts lag das saubere Zimmer, das »Gäste-« oder »Herrschaftszimmer«, links war das Zimmer mit dem großen Ofen, der keinen Abzug hatte, und den Holzbänken. Der Doktor und der Untersuchungsrichter betraten, gefolgt vom Kommissar, der das Lämpchen über seinen Kopf hielt, das saubere Zimmer. Hier lag unmittelbar vor den Tischbeinen regungslos ein langer Körper, mit weißem Linnen zugedeckt. Beim schwachen Licht des Lämpchens konnte man außer dem weißen Laken überaus deutlich die neuen Gummigaloschen sehen, und das war alles wenig angenehm und recht bedrückend: sowohl die dunklen Wände wie auch die Stille und dann die Gummischuhe und die Regungslosigkeit des toten Körpers. Auf dem Tisch stand der schon längst kalt gewordene Samowar, umgeben von Papierpäckchen, die offenbar den Imbiß enthielten.

»Sich in einem Gemeindehaus zu erschießen - wie geschmacklos!« meinte der Arzt. »Wenn einer schon Lust hat, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, soll er's zu Hause tun, meinetwegen in der Scheune.«

So wie er da stand, in Mütze, Pelz und Filzstiefeln, ließ er sich auf die Bank nieder; sein Gefährte, der Untersuchungsrichter, nahm ihm gegenüber Platz.

»Diese Hysteriker und Neurastheniker sind gewaltige Egoisten«, fuhr der Doktor voll Bitterkeit fort. »Wenn ein Neurastheniker mit Ihnen im selben Zimmer schläft, macht er mit der Zeitung Lärm; wenn er in Ihrer Gegenwart zu Mittag speist, macht er seiner Frau eine Szene, ohne sich durch Ihre Anwesenheit stören zu lassen; und wenn so einem in den Kopf kommt, sich zu erschießen, dann erschießt er sich unbedingt im Dorf im Gemeindehaus, um nur allen möglichst viel Scherereien zu bereiten. Diese Herrschaften denken bei allem im Leben immer nur an sich. Immer nur an sich! Das ist die Ursache, weswegen die alten Leute diese unsere ›nervöse Epoche‹ nicht leiden mögen.«

»Als ob es wenig gibt, was diese alten Leute nicht leiden mögen«, sagte der Untersuchungsrichter gähnend. »Weisen Sie doch diese alten Leute daraufhin, was es für einen Unterschied zwischen den früheren und den jetzigen Selbstmorden gibt. Der frühere, der sogenannte anständige Mensch erschoß sich, weil er Staatsgelder veruntreut hatte; der jetzige aber, weil ihm das Leben über wurde, infolge der Schwermut... Was ist besser?«

»Weil Ihnen das Leben über wurde, infolge Schwermut, indes geben Sie zu, man hätte sich nicht unbedingt im Gemeindehaus zu erschießen brauchen.«

»Schon solch ein Kummer«, warf der Kommissar ein, »solch ein Kummer, die reine Strafe! Die Leute sind sehr beunruhigt, Euer Hochwohlgeboren, sie schlafen bereits die dritte Nacht nicht. Die Kinder weinen. Die Kühe müssen gemolken werden, aber die Weiber gehen nicht in den Stall, trauen sich nicht... weil ihnen doch der Herr im Dunkel erscheinen könnte. Ist ja klar, sind dumme Weiber, doch auch unter den Bauern gibt es welche, die Angst haben. Wenn es Abend wird, gehen sie nicht einzeln hier am Haus vorbei, sondern nur in Rudeln. Und die Ortszeugen genauso ...«   -  Anton Tschechow, Dienstsache.  Nach (tsch)

Selbstmörder Egoismus

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