Selbstmörderin  Auf der einen Seite der Brücke überragte ein eigenartig kurzes Schattenbild das Geländer. Er rannte. Ein junges Mädchen stand da auf einem kleinen, gekehlten Gesims, das zum reibungslosen Abfluß der Luftfeuchtigkeit mit einer Traufe ausgestattet war. Sie schien zu zögern, sich ins Wasser zu stürzen. Ouen lehnte sich hinter ihr auf das Geländer.

»Ich bin bereit«, sagte er. »Jetzt können Sie springen.«

Sie schaute ihn unentschlossen an. Es war ein hübsches Mädchen mit beigefarbenen Haar.

»Ich frage mich, ob ich flußauf- oder flußabwärts von der Brücke hineinspringen soll«, sagte sie. »Flußaufwärts habe ich natürlich die Chance, von der Strömung ergriffen und gegen einen Pfeiler geschleudert zu werden. Flußabwärts profitiere ich von den Strudeln. Aber es kann sein, daß ich, vom Untertauchen benommen, mich an den Pfeiler klammere. Im ersten und im zweiten Fall werde ich zu sehen sein, und ich lenke wahrscheinlich die Aufmerksamkeit eines Retters auf mich.«

»Das Problem verdient einiges Nachdenken«, sagte Ouen, »und ich kann Ihnen nur recht geben, daß Sie es so ernsthaft angehen wollen. Natürlich stehe ich Ihnen voll und ganz zur Verfügung, um Ihnen bei der Lösung zu helfen.«

»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte das Mädchen mit seinem roten Mund. »Das Ganze belastet mich so, daß ich nicht mehr weiß, was ich davon halten soll.«

»Wir könnten dies in einem Café genauer untersuchen«, sagte Ouen. »Ich diskutiere schlecht, wenn ich nichts zu trinken habe. Kann ich Ihnen irgendwas anbieten? Das würde Ihnen vielleicht eine spätere Blutstockung leichter erträglich machen.«

»Sehr gern«, sagte das junge Mädchen.   - Boris Vian, Der Voyeur. Berlin 1989

 

Selbstmord

 

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