chmaus  Es öffnete sich ein in die Mauer eingelassenes Eisengitter. Vier Männer betraten die »Arena« und zogen das tote Pferd an Seilen hinter sich her, den Helden dieser Galavorstellung, den wir bereits mit Herzklopfen erwarteten. Rasch nahmen sie dem Tier sein letztes irdisches Geschirr ab. Arme Kreatur, die von jung an solche Fesseln getragen hatte und erst jetzt von ihnen für immer befreit wurde. Hierauf entfernten sich die Männer und warfen das Eisengatter hinter sich zu. Das Spiel konnte beginnen.

Brissot-Thivars sah Balzac an, Balzac sah Brissot-Thivars an - der große Autor, damit meine ich diesmal Brissot-Thivars, und das große Publikum, damit meine ich diesmal Balzac, maßen einander, ob einer dem anderen gewachsen wäre.

Jetzt kamen aus verborgenen Löchern etliche Ratten hervor, angelockt durch das makabre Mahl. Das war die Vorhut. Von diesem ersten Häuflein lösten sich einige und näherten sich mißtrauisch bis auf wenige Meter dem Kadaver. Dort drehten sie wie in einer Kollektivregung ihre spitzen Mäuler mit den vibrierenden Schnurrbarthaaren den Gattern zu, durch die sie herangeglitten waren, wie um sich zu vergewissern, ob notfalls der Rückzugsweg offenstände. Man spricht immer von der Klugheit der Schlangen: diese landläufige Vorstellung trifft keineswegs zu; kein Geschöpf ist weniger klug als die Schlange, die durch Pfeifen, Sichbäumen und alle nur möglichen auffälligen Bewegungen ihre Anwesenheit verrät. Sprechen wir lieber von der Klugheit der Ratte! Seit den Tagen der Arche Noah wurden keinem Tier so viele Fallen gestellt - hätte der gute Noah sie nur gar nicht erst hereingelassen! -, und kein Tier auf der Erde hat sich derartig vermehrt.

Das noch etwas schüchterne Gehabe der ersten Ratten legte sich, sobald sie sich von weiteren Ratten umgeben sahen, die herbeieilten, um an dem Schmaus teilzunehmen. Ihre große Zahl ermutigte die Tiere wechselseitig, und allmählich wurde das Pflaster allerorten von dunklen Punkten übersät, die sich rasch mehrten. Der scharf beobachtende Balzac wies uns darauf hin, daß die Ratten, je später sie kamen, um so größer und stärker waren: Die zuerst Gekommenen waren mager und schmächtig ; die nächsten hatten schon einen beachtlichen Embonpoint, und ihnen folgten immer dickere; Balzac führte das darauf zurück, daß die ersten hungriger wären als die anderen. Dann machte er sich einen Spaß daraus, einzelne Ratten mit Menschen dieses oder jenes Berufs und dieser oder jener gesellschaftlichen Position zu vergleichen - je nach ihrem Leibesumfang. Er zeigte hierhin und dorthin: »Das da ist ein Gerichtsdiener, verdient nur zwanzig Francs im Monat, ohne Frühstück. -Das ist ein Finanzbeamter ohne Planstelle. - Das ist ein Beamter mit zwölfhundert Francs Jahresgehalt, der ist schon weniger ausgehungert. - Der da kriegt zweitausend Francs, hat aber schon ein Leiden, weil er zu gut lebt! - Hier kommt ein Abteilungsleiter, er kriegt bereits einen Bauch! - Und das ist ein Rentner, ganz glatzköpfig.« Allmählich verschwand das Pflaster unter einem Teppich aus Ratten: schwarze Ratten, dunkelbraune, rötliche, gelbe, kastanienbraune, graue, aschfarbene, bläuliche und sogar weiße Ratten, die wie ehrwürdige Dekane aussahen. Aus der Masse löste sich ein Fähnlein beherzterer, verwegener Ratten. Es zog in drei Kolonnen keilförmig auf  den Pferdekadaver los und besetzte ihn. - Léon Gozlan, Balzac in Pantoffeln. München 1969 (dtv 602, zuerst ca. 1860)

 

Mahlzeit

 

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