Schildkrötengeist Das Tal sah jetzt nicht mehr so aus wie zuvor, es war dort dunkel und finster. Der Schüdkrötengeist stand mit dem Drachenstock in der Hand auf einem großen Stein, und auch er sah nicht mehr so aus, wie ihn Daschëng zuvor gesehen hatte. Seine Augenbrauen sahen aus wie struppige Besen, die Augen wie runde Messingschellen, das Gesicht war zur einen Hälfte grün und zur anderen rot. Er machte Gebärden mit Händen und Füßen und blickte dabei nach oben in die Luft. Was machte er da? Daschëng hob den Kopf und sah, daß der Himmel voller Spinnennetze hing, selbst die Sonne war davon verdüstert. Der arme weiße Schmetterling flatterte auf und ab und mußte, wie es aussah, in den Netzen hängenbleiben. Daschëng kam plötzlich ein Gedanke. Er zog die Flöte aus dem Gürtel und begann unentwegt darauf zu blasen.

Die hellen Töne durchdrangen die Spinnennetze und breiteten sich nach allen Seiten aus. Paarweise kamen Vögel geflogen, ganze Schwärme von Vögeln kamen herbei. Sie schlugen mit ihren bunten Flügeln, und wie der Wind die Blätter von den Bäumen fegt, hatten sie bald die Spinnennetze in der Luft kurz und klein gerissen. Über Daschëngs Kopf glänzte wieder der blaue Himmel, vor Daschengs Augen lag wieder das Tal mit grünen Bäumen und roten Blumen. Der Schildkrötengeist war so wütend, daß seine grüne Gesichtshälfte noch grüner und die rote noch roter wurde. »Das ist dein Verderben, du Wicht!« rief er, nahm den kleinen Flaschenkürbis von seinem Drachenstock und drehte ihn mit der Öffnung nach unten. Prasselnd fielen gelbe Bohnen aus dem Flaschenkürbis, sprangen und hüpften über den Boden und ver­wandelten sich in Soldaten mit Schwertern und berittene Offiziere. Im nächsten Augenblick stürmten Hunderte und Tausende von Soldaten, die Fahnen schwenkend und mit Kriegsgeschrei, auf Dascheng los. Aber die hellen Töne seiner Flöte drangen durch die Berge und breiteten sich nach allen Seiten aus. Ein Rudel Tiger und ein Rudel Leoparden kamen herbeigelaufen, die Bestien rissen ihre riesigen Rachen auf, und im Nu waren von zehn Soldaten acht verschlungen. Als der Schildkrötengeist sah, daß es nicht gut um sie stand, nahm er den Flaschenkürbis und wollte die übrigen Bohnensoldaten einsammeln, aber er hatte nicht aufgepaßt, und ein Adler flog von hinten an ihn heran, packte den Flaschenkürbis mit dem Schnabel und trug ihn fort. Jetzt stürzten sich die wilden Raubtiere auf den Schildkrötengeist. Da stampfte er mit seinem Drachenstock auf die Erde, und die Berge erbebten, die Erde öffnete sich, und überall strömte Wasser hervor. Das Gras und die Blumen versanken, auch Daschëng war ringsum von Wasser umgeben. In dieser verzweifelten Lage riß sich der weiße Schmetterling seine, beiden langen Fühler aus und warf sie hinunter. Sie verwandelten sich in zwei geschwungene goldene Brücken, und Dascheng konnte darauf auf den Berggipfel gelangen. Auch die Wildkatzen und die Hasen konnten sich darauf retten. Der weiße Schmetterling schlug jetzt dicht über dem Wasser mit den Flügeln, und während auf dem Berggipfel kein Lüftchen wehte und kein Grashalm sich be­wegte, brauste im Tal das Wasser auf, und die Wellen stiegen ein paar Dschang hoch auf. Gleich mußte der Schildkrötengeist von den Wellen weggespült werden, da warf er rasch seinen Drachenstock ins Wasser, der Drachenstock tauchte durch die Wellen und verwandelte sich in einen mehrere Dschang langen grünen Drachen.

Der Schildkrötengeist sprang rittlings auf den Drachen, der Drache hob seinen Kopf, und wie es aussah, wollte er davonfliegen.

Da erklang wieder die Flöte, und der weiße Schmetterling flatterte hoch in die Luft. Das Wasser beruhigte sich, und die Wellen glätteten sich. Der grüne Drache ließ den erhobenen Kopf wieder sinken.

Dascheng blies mit der Flöte dem Drachen entgegen und dachte: »Grüner Drache! Wie viele Flüsse und Ströme gibt es, warum läßt du dich von dem Schildkrötengeist als Stock benutzen? Grüner Drache! Wie viele Meere und Ozeane gibt es, warum willst du dich dort nicht frei herumtummeln?< Das brauchte er nicht zu sagen und nicht auszusprechen, die Zauberflöte sagte dem Drachen afies. Und da nickte er mit dem Kopf, drehte und wälzte sich und warf den Schildkrötengeist ins Wasser. Nun sangen wieder die Vögel, und die Hirsche sprangen wieder fröhlich umher. Der weiße Schmetterling schlug mit den Flügeln und ließ sich neben Dascheng nieder. Aber wie traurig waren sie da! Sie saßen nebeneinander, aber das Mädchen konnte mit Dascheng nicht sprechen. Sie saßen nebeneinander, aber Dascheng konnte das Mädchen nicht als Mensch sehen.

Daschëng hockte sich rasch nieder und sagte beruhigend: »Alle Flüsse strömen zum Meer, und auch wir sind wieder zusammen. Die Blumen verwelken, und das Gras verdorrt, aber unsere Liebe und Freundschaft kann nicht vergehen.«

Der arme weiße Schmetterling sah Daschëng an und zitterte am ganzen Leibe und konnte doch keinen Ton hervorbringen.

Die Vögel sangen nicht mehr, und die Hirsche sprangen nicht mehr. Der grüne Drache heulte auf, erhob sich in die Luft und flog davon. Dabei fielen ein paar klare Tränen aus seinen Augen auf den Schmetterling. Der Schmetterling schlug mit den Flügeln und verwandelte sich in das schöne junge Mädchen mit dem hübschen Gesicht und dem leichten Kleid. Jetzt waren sie wieder ein Paar, wie man es sich nicht glücklicher vorstellen kann. Daschëng blies noch oft auf der Flöte, dann öffneten sich die Blüten, und die Vögel kamen herbei. Schildkröten, die den Menschen Schaden zufügen und sich selber in Menschen verwandeln können, gibt es nicht mehr. Sie stecken nur noch in ihren schwarz-weißen Panzern und bleiben zeitlebens im Wasser. - Chinesische Märchen. Hg. und Übs. Rainer Schwarz. Frankfurt am Main 1981

Schildkröte Geister

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