chaufensterpuppe Ein
Italiener, der in Riva am Gardasee eine Villa besitzt und der von den Zinsen
des ihm von seinem Vater hinterlassenen Vermögens sehr gut leben kann, hat,
wie La stampa schreibt, die letzten zwölf Jahre mit einer Schaufensterpuppe
zusammengelebt. Die Bewohner von Riva berichten, sie hätten an milden Abenden
beobachtet, wie der Italiener, der angeblich Kunstgeschichte studiert hat, mit
dieser Schaufensterpuppe das unweit seiner Villa gelegene, mit einer Glaskuppel
überdachte Luxusboot betreten habe, um mit seiner Schaufensterpuppe auf den
See hinauszufahren. Als er vor Jahren einmal in einem an die in Desencano herausgegebene
Zeitung gerichteten Leserbrief als unzüchtig bezeichnet
worden ist, habe er bei dem zuständigen Standesamt seine Verehelichung mit der
Schaufensterpuppe beantragt, was aber abgelehnt worden ist. Auch die Kirche
hat ihm eine Verheiratung mit seiner Schaufensterpuppe verweigert. Im Winter
verläßt er regelmäßig gegen Mitte Dezember den Gardasee und fährt mit seiner
Geliebten, die er in einem Schaufenster in Paris kennengelernt hat, nach Sizilien,
wo er sich immer m dem berühmten Hotel Timeo in Taormina einmietet um der Kälte
zu entkommen. -
Thomas Bernhard, Der Stimmenimitator. Frankfurt am Main 1978
Schaufensterpuppe
(2) Auf der Gegenseite zum Eingang wurde mir gewöhnlich ein Schreck
eingejagt. Immer wieder glaubte ich hier, vor einem Hügel aufgeschichteter
Leichen zu stehen, die an der Schuppenwand abgelegt worden waren; das Gesträuch
der Asche machte sich schon über sie her. Natürlich waren es nur nackte Schaufensterpuppen,
ich kannte sie schon . . . ich glaubte in der Dämmerung zu bemerken, daß man
ausnahmslos Individuen maskulinen Geschlechts zusammengetragen hatte. Es war
eine erstaunliche Versammlung: offensichtlich war der Ausdruck ihrer Visagen
aus der Mode gekommen, man hatte sie in den Abfall
geworfen, doch die Müllarbeiter gruben sie wieder aus und stapelten sie hinter
ihrer Bude zu einem merkwürdigen und grausigen Mahnmal auf. Die zuunterst liegenden
Puppen hatten längst das Zeitliche gesegnet, sie waren nur noch Lachen von breitgelaufenem
Gips, mit Schmutz und Asche durchsetzt, daraus ihre Drahtskelette spießten,
und in diesen Brei sackten die darüberliegenden Puppen
langsam nach; das ganze befand sich an der Westseite der Hütte, wo der Regen
schnell dafür sorgte, daß sie dem Erdboden gleich wurden. - Wolfgang Hilbig, Die Kunde von den Bäumen. Frankfurt am Main 1994
Schaufensterpuppen
(4) Die Schaufensterpuppen waren ihre stille Freude. Sie lebte
unter ihnen, mit ihnen, nahm an ihrem Leben teil; sie waren der Mittelpunkt
ihres Daseins, sie waren ihre Seele. Seit jeher hatten sie in dem Laden ihrer
Großmutter gestanden, und von der Wiege an hatte sie an ihnen gehangen wie an
ihren eigenen Träumen. Sie hatten vor ihren Augen alle Toiletten des Jahrhunderts
getragen. Ihre Eleganz, die sie einst in vollem Glanz gekannt hatte, ersetzte
nun, was ihr selber in diesem Punkte abging. Immer noch waren sie ihr Zeitvertreib,
wie einem kleinen Mädchen seine Puppen: es gefiel ihr, sie an-und auszukleiden
und sie zu hätscheln wie liebgewordene Illusionen; bald verlieh sie ihnen eine
schräg geneigte, bald eine kühn sich reckende Haltung hinter dem Schaufenster,
rückte sie näher zusammen oder entfernte sie in die vier Ecken ihres Blickfeldes.
Fast täglich veränderte sie das Beiwerk ihrer Kleidung, wechselte die Krawatten,
die an Flitterglanz miteinander wetteiferten, und ihre Tüchlein, die in hartem
Rosa und schreiendem Grün bestickt waren. Im Karneval bekam eine jede ihr Kostüm.
Im Mai hätte man meinen können, die Schaufensterpuppen gingen zur Erstkommunion.
Sie sprach auch mit ihnen. Ihr Vater, der ein sehr belesener Mann gewesen war,
hatte jeder einen Namen gegeben. Im Gedenken an ihn nannte Prudence den Altweiberkopf
aus Pappmaché mit den chinesischen Haarbändern, auf dem sie ihre Tüllhauben
ausstellte, immer nur: Symphorosa. Die zweite, Jungfer Zimpferlein, starrte
abweisend auf die arme Welt. Ferner gab es eine Klytämnestra, von wildem Aussehen
wie in den Dramen des Äschylus, zwischen den beiden «Precieuses ridicules» von
Molière, die ihren Kopf eingebüßt hatten und deren Namen Prudence entfallen
war. - Marcel Jouhandeau, Prudence Hautechaume oder Die Schaufensterpuppen
der Diebin. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
Schaufensterpuppe (5) Er schlief mit einer hübschen Blondine, einer Verkäuferin für Schaufensterpuppen. Es war nach Feierabend, sie waren allein in der Firma und lagen auf einem Sofa in der Verkaufsabteilung, unter den starren Blicken eines Dutzends höflich lächelnder Puppen beiderlei Geschlechts. »Komm schon, komm schon«, keuchte das Mädchen, während sie auf eine große Uhr an der Wand blickte. Beide wussten, was auf dem Spiel stand: Das Mädchen hatte die Chance, zur Frau zu werden, doch wenn sie es nicht schafften, innerhalb von fünf Minuten zum Ende zu kommen, würde es wieder zur Puppe werden. »Komm schon, komm schon...«
Endlich hatten sie es geschafft, genau drei Sekunden vor der festgesetzten
Zeit, und die anderen Puppen klatschten Beifall. - Andrea Camilleri, Das Spiel des Poeten. Köln 2015
|
||
|
||