rimitivität
Die Vorurteile, die auf die »primitive« Simplizität und die »primitive« Grobheit
abheben, htten in vielen Fällen die Ethnologen daran gehindert, sich über
die bewußten, sehr komplexen und kohärenten Klassifikationssysteme
zu unterrichten, deren Existenz ihnen unvereinbar erschienen wäre mit dem sehr
niedrigen ökonomischen und technischen Niveau, von dem sie zu eilfertig auf
ein entsprechendes intellektuelles Niveau schlossen. Wir beginnen erst langsam
zu ahnen, daß frühere Beobachtungen, die man ebenso seltenen wie scharfsichtigen
Forschern wie Cushing verdankt, keine außergewöhnlichen Fälle aufdecken,
sondern daß sie auf Formen des Wissens und der Reflexion hinweisen, die in den
sogenannten primitiven Gesellschaften außerordentlich verbreitet sind. Aufgrund
dieser Tatsache muß sich das traditionelle Bild, das wir uns von dieser Primitivität
gemacht haben, ändern. Niemals und nirgends war der »Wilde« wohl jenes Lebewesen,
das, kaum dem tierischen Zustand entwachsen, noch der Herrschaft seiner Bedürfnisse
und Instinkte ausgeliefert ist, wie man es sich allzu oft vorgestellt hat, noch
repräsentiert er jenen Bewußtseinstypus, der durch die Affektivität beherrscht
wird und in Verworrenheit und Partizipation versinkt. Die von uns zitierten
Beispiele, denen man noch weitere hinzufügen könnte, sprechen für ein Denken,
das in allen spekulativen Verfahren bewandert ist und das dem Naturforscher
und Geheimwissenschaftler der Antike und des Mittclalters nahesteht: Galen,
Plinius, Hermes Trismegistos, Albertus Magnus . . . Unter diesem Gesichtspunkt
sind die »totemistischen« Klassifikationen von der Pflanzensymbolik der Griechen
und Römer, die sich in Kränzen aus Olive, Eiche, Lorbeer, Eppich usw. ausdrückt,
vermutlich weniger weit entfernt, als es scheint; oder von derjenigen, die noch
m der mittelalterlichen Kirche praktiziert wurde, wo man je nach dem Fest den
Chor mit Esparsette, Binsen, Efeu oder Sand bestreute. - Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Frankfurt am
Main 1991 (zuerst 1962)
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