Metall, unreines   Es ist sehr anzuraten, auch einmal die Gelehrten zu untersuchen und zu sezieren, nachdem sie selbst sich gewöhnt haben, alles in der Welt, auch das Ehrwürdigste, dreist zu betasten und zu zerlegen. Soll ich heraussagen, was ich denke, so lautet mein Satz: der Gelehrte besteht aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize, er ist durchaus ein unreines Metall. Man nehme zuvörderst eine starke und immer hoher gesteigerte Neubegier, die Sucht nach Abenteuern der Erkenntnis, die fortwährend anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen im Gegensatze zum Alten und Langweiligen. Dazu füge man einen gewissen dialektischen Spür- und Spieltrieb, die jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so daß nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird und der Hauptgenuß im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmäßigen Abtöten besteht. Nun tritt noch der Trieb zum Widerspruch hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen entgegen, sich fühlen und fühlen lassen; der Kampf wird zur Lust, und der persönliche Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit nur der Vorwand ist. Zu einem guten Teile ist sodann dem Gelehrten der Trieb beigemischt, gewisse „Wahrheiten" zu finden, nämlich aus Untertänigkeit gegen gewisse herrschende Personen, Kasten, Meinungen, Kirchen, Regierungen, weil er fühlt, daß er sich nützt, indem er die „Wahrheit" auf ihre Seite bringt.

Weniger regelmäßig, aber doch noch häufig genug, treten am Gelehrten folgende Eigenschaften hervor: Erstens Biederkeit und Sinn für das Einfache, sehr hoch zu schätzen, wenn sie mehr sind als Ungelenkigkeit und Ungeübtheit in der Verstellung, zu welcher ja einiger Witz gehört. In der Tat kann man überall, wo der Witz und die Gelenkigkeit sehr in die Augen fallen, ein wenig auf der Hut sein und die Geradheit des Charakters in Zweifel ziehn. Andererseits ist meisthin jene Biederkeit wenig wert und auch für die Wissenschaft nur selten fruchtbar, da sie am Gewohnten hängt und die Wahrheit nur bei einfachen Dingen oder in adiaphoris zu sagen pflegt; denn hier entspricht es der Trägheit mehr, die Wahrheit zu sagen, als sie zu verschweigen. Und weil alles Neue ein Umlernen nötig macht, so verehrt die Biederkeit, wenn es irgend angeht, die alte Meinung und wirft dem Verkündiger der neuen vor, es fehle ihm der sensus recti. Gegen die Lehre des Kopernikus erhob sie gewiß deshalb Widerstand, weil sie hier den Augenschein und die Gewohnheit für sich hatte. Der bei Gelehrten nicht gar seltne Haß gegen die Philosophie ist vor allem Haß gegen die langen Schlußketten und die Künstlichkeit der Beweise. Ja im Grunde hat jede Gelehrten-Generation ein unwillkürliches Maß für den erlaubten Scharfsinn; was darüber hinaus ist, wird angezweifelt und beinahe als Verdachtgrund gegen die Biederkeit benutzt. — Zweitens Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit großer Myopie für die Ferne und das Allgemeine. Sein Gesichtsfeld ist gewöhnlich sehr klein, und die Augen müssen dicht an den Gegenstand herangehalten werden. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem andern, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin. Er zerlegt ein Bild in lauter Flecke wie einer, der das Opernglas anwendet, um die Bühne zu sehen, und jetzt bald einen Kopf, bald ein Stück Kleid, aber nichts Ganzes ins Auge faßt. Jene einzelnen Flecke sieht er nie verbunden, sondern er erschließt nur ihren Zusammenhang; deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurteilt zum Beispiel eine Schrift, weil er sie im Ganzen nicht zu übersehen vermag, nach einigen Stücken oder Sätzen oder Fehlern; er würde verführt sein zu behaupten, ein Ölgemälde sei ein wilder Haufen von Klecksen. — Drittens Nüchternheit und Gewöhnlichkeit seiner Natur in Neigungen und Abneigungen. Mit dieser Eigenschaft hat er besonders in der Historle Glück, insofern er die Motive vergangener Menschen gemäß den ihm bekannten Motiven aufspürt. In einem Maulwurfsloche findet sich ein Maulwurf am besten zurecht. Er ist gehütet vor allen künstlichen und ausschweifenden Hypothesen; er gräbt, wenn er beharrlich ist, alle allgemeinen Motive der Vergangenheit auf, weil er sich von gleicher Art fühlt. Freilich Ist er meistens gerade deshalb unfähig, das Seltne, Große und Ungemeine, also das Wichtige und Wesentliche, zu verstehen und zu schätzen. — Viertens Armut an Gefühl und Trockenheit. Sie befähigt ihn selbst zu Vivisektionen. Er ahnt das Leiden nicht, das manche Erkenntnis mit sich führt, und fürchtet sich deshalb auf Gebieten nicht, wo anderen das Herz schaudert, Er ist kalt und erscheint deshalb leicht grausam. Auch für verwegen hält man ihn, aber er ist es nicht, ebensowenig wie das Maultier, welches den Schwindel nicht kennt. — Fünftens geringe Selbstschätzung, ja Bescheidenheit. Sie fühlen, obwohl in einen elenden Winkel gebannt, nichts von Aufopferung, von Vergeudung, sie scheinen es oft im tiefsten Innern zu wissen, daß sie nicht fliegendes, sondern kriechendes Getier sind. Mit dieser Eigenschaft erscheinen sie selbst rührend. — Sechstens Treue gegen ihre Lehrer und Führer. Diesen wollen sie recht von Herzen helfen, und sie wissen wohl, daß sie ihnen am besten mit der Wahrheit helfen. Denn sie sind dankbar gestimmt, weil sie nur durch sie Einlaß in die würdigen Hallen der Wissenschaft erlangt haben, in welche sie auf eignem Wege niemals hineingekommen wären. Wer gegenwärtig als Lehrer ein Gebiet zu erschließen weiß, auf dem auch die geringen Köpfe mit einigem Erfolge arbeiten können, der ist in kürzester Zeit ein berühmter Mann: so groß ist sofort der Schwärm, der sich hinzudrängt. Freilich ist ein jeder von diesen Treuen und Dankbaren zugleich auch ein Mißgeschick für den Meister, weil jene alle ihn nachahmen und nun gerade seine Gebreste unmäßig groß und übertrieben erscheinen, weil sie an so kleinen Individuen hervortreten, wahrend die Tugenden des Meisters umgekehrt, nämlich im gleichen Verhältnisse verkleinert, sich an demselben Individuum darstellen. — Siebentens gewohnheitsmäßiges Fortlaufen auf der Bahn, auf welche man den Gelehrten gestoßen hat, Wahrheitssinn aus Gedankenlosigkeit, gemäß der einmal angenommnen Gewöhnung. Solche Naturen sind Sammler, Erklärer, Verfertiger von Indices, Herbarien; sie lernen und suchen auf einem Gebiete herum, bloß weil sie niemals daran denken, daß es auch andre Gebiete gibt. Ihr Fleiß hat etwas von der ungeheuerlichen Dummheit der Schwerkraft: weshalb sie oft viel zustande bringen, — Achtens Flucht vor der Langeweile. Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Muße, flieht der gewöhnliche Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiß. Seine Tröster sind die Bücher: das heißt, er hört zu, wie jemand anderes denkt und läßt sich auf diese Art über den langen Tag hinweg unterhalten. Besonders wählt er Bücher, bei welchen seine persönliche Teilnahme irgendwie angeregt wird, wo er ein wenig, durch Neigung oder Abneigung, in Affekt geraten kann: also Bücher, wo er selbst in Betrachtung gezogen wird oder sein Stand, seine politische oder ästhetische oder auch nur grammatische Lehrmeinung; hat er gar eine eigne Wissenschaft, so fehlt es ihm nie an Mitteln der Unterhaltung und an Fliegenklappen gegen die Langeweile. — Neuntens das Motiv des Broterwerbs, also im Grunde die berühmten „Borborygmen eines leidenden Magens". Der Wahrheit wird gedient, wenn sie imstande ist, zu Gehalten und höheren Stellungen direkt zu befördern, oder wenigstens die Gunst derer zu gewinnen, welche Brot und Ehren zu verleihen haben. Aber auch nur dieser Wahrheit wird gedient: weshalb sich eine Grenze zwischen den ersprießlichen Wahrheiten, denen viele dienen, und den unersprießlichen Wahrheiten ziehen laßt: welchen letzteren nur die wenigsten sich hingeben, bei denen es nicht heißt: ingenii largitor venter. — Zehntens Achtung vor den Mitgelehrten, Furcht vor ihrer Mißachtung; seltneres, aber höheres Motiv als das vorige, doch noch sehr häufig. Alle die Mitglieder der Zunft überwachen sich untereinander auf das eifersüchtigste, damit die Wahrheit, an welcher so viel hängt, Brot, Amt, Ehre, wirklich auf den Namen ihres Finders getauft werde. Man zollt streng dem ändern seine Achtung für die Wahrheit, welche er gefunden, um den Zoll wieder zurückzufordern, wenn man selber einmal eine Wahrheit finden sollte. Die Unwahrheit, der Irrtum wird schallend explodiert, damit die Zahl der Mitbewerber nicht zu groß werde; doch wird hier und da auch einmal die wirkliche Wahrheit explodiert, damit wenigstens für eine kurze Zeit Platz für hartnäckige und kecke Irrtümer geschafft werde; wie es denn nirgendswo und auch hier nicht an „moralischen Idiotismen" fehlt, die man sonst Schelmenstreiche nennt. — Elftens der Gelehrte aus Eitelkeit, schon eine seltnere Spielart. Er will womöglich ein Gebiet ganz für sich haben und wählt deshalb Kuriositäten, besonders wenn sie ungewöhnlichen Kostenaufwand, Reisen, Ausgrabungen, zahlreiche Verbindungen in verschiedenen Ländern nötig machen. Er begnügt sich meistens mit der Ehre, selber als Kuriosität angestaunt zu werden, und denkt nicht daran, sein Brot vermittels seiner gelehrten Studien zu gewinnen. — Zwölftens der Gelehrte aus Spieltrieb. Seine Ergötzlichkeit besteht darin, Knötchen in den Wissenschaften zu suchen und sie zu lösen; wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, um das Gefühl des Spiels nicht zu verlieren. Deshalb dringt er nicht gerade in die Tiefe, doch nimmt er oft etwas wahr, was der Brotgelehrte mit dem mühsam kriechenden Auge nie sieht. — Wenn ich endlich dreizehntens noch als Motiv des Gelehrten den Trieb nach Gerechtigkeit bezeichne, so könnte man mir entgegenhalten, dieser edle, ja bereits metaphysisch zu verstehende Trieb sei gar zu schwer von anderen zu unterscheiden und für ein menschliches Auge im Grunde unfaßlich und unbestimmbar; weshalb ich die letzte Nummer mit dem frommen Wunsche beifüge, es möge jener Trieb unter Gelehrten häufiger und wirksamer sein, als er sichtbar wird. Denn ein Funke von dem Feuer der Gerechtigkeit, in die Seele eines Gelehrten gefallen, genügt, um sein Leben und Streben zu durchglühen und läuternd zu verzehren, so daß er keine Ruhe mehr hat und für immer aus der lauen oder frostigen Stimmung herausgetrieben ist, in welcher die gewöhnlichen Gelehrten ihr Tagewerk tun.

Alle diese Elemente, oder mehrere oder einzelne, denke man sich nun kräftig gemischt und durcheinander geschüttelt: so hat man das Entstehen des Dieners der Wahrheit. Es ist sehr wunderlich, wie hier, zum Vorteile eines im Grunde außer- und übermenschlichen Geschäftes, des reinen und folgelosen, daher auch trieblosen Erkennens, eine Menge kleiner sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen wird, um eine chemische Verbindung einzugehen, und wie das Resultat, der Gelehrte, sich nun im Lichte jenes überirdischen hohen und durchaus reinen Geschäftes so verklärt ausnimmt, daß man das Mengen und Mischen, das zu seiner Erzeugung nötig war, ganz vergißt. Doch gibt es Augenblicke, wo man gerade daran denken und erinnern muß: nämlich gerade dann, wenn der Gelehrte in seiner Bedeutung für die Kultur in Frage kommt. Wer nämlich zu beobachten weiß, bemerkt, daß der Gelehrte seinem Wesen nach unfruchtbar ist — eine Folge seiner Entstehung! — und daß er einen gewissen natürlichen Haß gegen den fruchtbaren Menschen hat. - Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (1874)

Metall

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