ebensinhalt   »Hinterm Tresen stehen und die Leute abfüllen. Das ist doch kein Lebensinhalt!«

»Moment mal«, sagte Herr Lehmann. »Was soll das heißen, Lebensinhalt? Lebensinhalt ist doch ein total schwachsinniger Begriff. Was willst du damit sagen, Lebensinhalt? Was ist der Inhalt eines Lebens? Ist das Leben ein Glas oder eine Flasche oder ein Eimer, irgendein Behälter, in den man was hineinfüllt, etwas hineinfüllen muß sogar, denn irgendwie scheint sich ja die ganze Welt einig zu sein, daß man so etwas wie einen Lebensinhalt unbedingt braucht. Ist das Leben so? Nur ein Behältnis für was anderes? Ein Faß vielleicht? Oder eine Kotztüte?«

Sie starrte ihn verblüfft an.

»Oder was? Ist das so?« setzte Herr Lehmann nach.

»Was weiß ich, das sagt man halt so.«

Das reicht jetzt, dachte Herr Lehmann, ich sollte damit aufhören. Ich überfahre sie, dachte er, das geht nicht gut. »Lebensinhalt ist doch eine Scheißmetapher, das steht ja wohl mal fest«, fahr er dennoch fort, »aber selbst wenn man sie verwendet, was soll das denn dann sein? Gibt es irgendeinen, der mir das mal sagen kann? Kann ich jetzt zu einem von den Leuten hier an den Tisch gehen und ihn fragen: Entschuldigung, kannst du mir mal ein, zwei Lebensinhalte nennen? Nix! Nix! Aber alle glauben, es gibt so was. Und keiner denkt darüber nach. Wenn man von Lebensinhalt spricht, dann sieht man das Leben nur als Gefäß, als Mittel zum Zweck, in das es etwas hineinzufallen gilt, statt daß man sich vielleicht mal darüber klar wird, daß das Leben einen Wert an sich hat, und daß man, wenn man sich dauernd damit beschäftigt, es mit Inhalt zu füllen, das vielleicht überhaupt nicht kapiert. Aber bleiben wir ruhig beim Bild des Lebens als Gefäß«, konnte er sich nicht bremsen. »Ein Gefäß, in das man etwas hineinfüllen muß, kann es so lange nicht sein, wie mir keiner sagen kann, was genau dieses Hineinzufüllende eigentlich sein soll. Dann kann man es nur noch anders herum sehen, wenn man an der Metapher festhalten will: Dann ist das Leben ein Gefäß, das man gefüllt hingestellt bekommt, und zwar gefüllt mit Zeit. Und in diesem Gefäß ist ein Loch drin und die Zeit fließt unten raus, so ist das nämlich, wenn man überhaupt von einem Gefäß sprechen will. Und Zeit, das ist das Blöde daran, kann man nicht nachfüllen.«

»Ich habe doch gar nicht von einem Gefäß gesprochen.«

»Das ist doch jetzt mal eben egal«, sagte Herr Lehmann. Romantisch ist das nicht, dachte er, romantisch ist was anderes. »Du hast mit Lebensinhalt angefangen. Und wenn man von Lebensinhalt spricht, dann muß man das auch zu Ende denken. So ein Wort will durchdacht sein. Was also hat die Tatsache, daß man in einer Kneipe arbeitet, mit Lebensinhalt zu tun? Das ist doch der letzte Scheiß, Lebensinhalt. Man lebt und erfreut sich dran, das reicht doch völlig.« Gleich steht sie auf und geht, dachte er, und dann habe ich's verkackt auf lange Zeit.

Die schöne Köchin wirkte aber nicht verärgert, eher erstaunt. »Mein Gott, wie kann man sich über ein einzelnes Wort so aufregen. Ist doch egal, ob ich Lebensinhalt sage oder was anderes, du weißt doch, was gemeint ist.«

»Nein, weiß ich nicht. Ich weigere mich zu wissen, was gemeint ist, wenn man mir Dinge, die mein Leben betreffen, madig machen will, ohne daß man darüber nachdenkt, was man eigentlich sagt.«

»Jedenfalls ist das kein vernünftiger Beruf. Man kann doch nicht nur in einer Kneipe arbeiten.«

»Aha!« Herr Lehmann reckte einen Zeigefinger in die Höhe und nahm ihn gleich wieder runter. Jetzt auch noch der Zeigefinger, dachte er, das wird ja immer schlimmer.

»Da kommen wir der Sache schon näher. Man kann also nicht nur in einer Kneipe arbeiten. Was ist denn so schlimm daran? Wieso kann man nicht nur in einer Kneipe arbeiten?«

»Weil das doch viel zu öde ist.«

»Finde ich nicht.«

»Machst du denn nicht noch was anderes?«

»Wieso fragt einen dauernd einer, ob man noch was anderes macht?« Ich rede gar nicht mit ihr, dachte Herr Lehmann bedauernd, eigentlich rede ich mit dem Rest der Welt, und sie bekommt es ab. »Und die meisten, die ich kenne, sagen dann:

Ja, ich arbeite in einer Kneipe, aber eigentlich mache ich Kunst, eigentlich mache ich Musik in einer Band, eigentlich studiere ich, eigentlich, eigentlich, und alle meinen damit, daß sie das nicht auf Dauer machen werden, daß irgendwann das richtige Ding losgeht, so wie Karl mit seinen Skulpturen und so, ich meine, nichts gegen Karl und seinen Kram da, aber was ist das für ein trauriger Umgang mit dem, was man tut, wenn man es immer nur als Zwischenlösung ansieht, als nichts Richtiges?«

»Was für Skulpturen?«

»Das ist doch jetzt mal egal. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Warum ist das eine etwas wert, das andere aber nicht? Wenn ich jetzt sagen würde, eigentlich bin ich Künstler, dann würde doch jeder sagen: Ach so, na dann, alles klar. Aber was ist so schlimm daran, einfach nur hinterm Tresen zu stehen, und das auch noch gerne zu tun? Die ganze Stadt ist voller Kneipen, warum denn? Es gibt mehr Kneipen als Kirchen oder Galerien oder Konzerthäuser oder Clubs oder Discos oder was weiß ich was. Die Leute mögen das, sie gehen gerne in Kneipen. Es ist gut und nützlich, in einer Kneipe zu arbeiten. Es macht den Leuten genauso viel Spaß, in eine Kneipe zu gehen, wie in ein Museum oder in ein Konzert. Warum wollen dann immer alle Künstler sein oder sonstwas, aber keiner will jemand sein, der nur in einer Kneipe arbeitet. Würdest du einen Künstler fragen, warum er nicht mal was anderes macht? Zum Beispiel in einer Kneipe arbeiten? Na ja«, lenkte Herr Lehmann lächelnd ein, froh, eine kleine Abschwächung geranden zu haben, »tatsächlich gibt es sogar viele Künstler, die irgendwann eine Kneipe aufmachen. So gesehen habe ich doppelt recht, weil ich mir den Umweg über die Kunst gleich spare.« - Sven Regener, Herr Lehmann. Ein Roman. München 2003 (zuerst 2001)


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