stigkeit  Ich schluckte meine Pille um elf Uhr. Eineinhalb Stunden später saß ich in meinem Arbeitszimmer und blickte angespannt auf eine kleine Glasvase. Die Vase enthielt nur drei Blumen — eine voll erblühte Rose mit dem Namen »Schöne aus Portugal«, sie war muschelrosa, mit einer wärmeren, flammenderen Tönung am unteren Rand jedes Blütenblattes; eine große magentarote und cremeweiße Nelke und auf gekürztem Stengel die blaßviolette, sehr heraldische Blüte einer Schwertlilie. Nur zufällig und vorläufig zusammengetan, verstieß das kleine Sträußchen gegen alle Regeln herkömmlichen guten Geschmacks. Beim Frühstück an diesem Morgen war mir die lebhafte Disharmonie seiner Farben aufgefallen. Aber auf sie kam es nicht länger an. Ich blickte jetzt nicht auf eine ungewöhnliche Zusammenstellung von Blumen. Ich sah, was Adam am Morgen seiner Erschaffung gesehen hatte — das Wunder, das sich von Augenblick zu Augenblick erneuernde Wunder bloßen Daseins.

»Ist es angenehm?« fragte jemand.

»Weder angenehm noch unangenehm«, antwortete ich. »Es ist.«

Istigkeit — war das nicht das Wort, das Meister Eckhart so gerne gebrauchte? Das Sein der platonischen Philosophie — nur daß Plato den ungeheuren, den grotesken Irrtum begangen zu haben schien, das Sein vom Werden zu trennen und es dem mathematischen Abstraktum der Idee gleichzusetzen. Der arme Kerl konnte nie gesehen haben, wie Blumen aus ihrem eigenen inneren Licht heraus leuchteten und so große Bedeutung erlangten, daß sie unter dem Druck erbebten, der ihnen auferlegt war; er konnte nie wahrgenommen haben, daß das, was Rose und Schwertlilie und Nelke so eindringlich darstellten, nichts mehr und nichts weniger war, als was sie waren — eine Vergänglichkeit, die doch ewiges Leben war, ein unaufhörliches Vergehen, das gleichzeitig reines Sein war, ein Bündel winziger, einzigartiger Besonderheiten, worin durch ein unaussprechliches und doch selbstverständliches Paradoxon der göttliche Ursprung allen Daseins sichtbar wurde.

Ich blickte weiter auf die Blumen, und in ihrem lebendigen Licht glaubte ich das qualitative Äquivalent des Atmens zu entdecken — aber eines Atmens ohne das wiederholte Zurückkehren zu einem Ausgangspunkt, ohne ein wiederkehrendes Verebben; nur ein Fluten von Schönheit zu immer größerer Schönheit, von tiefer zu immer tieferer Bedeutung. Wörter wie »Gnade« und »Verklärung« kamen mir in den Sinn, und eben dafür standen diese Worte auch. Meine Augen wanderten von der Rose zur Nelke und von diesem gefiederten Erglühen zu den glatten Schnörkeln des Gefühl verströmenden Amethysts der Iris. Die beseligende Schau, Sat Chit Ananda, Seins-Gewahrseins-Seligkeit — zum erstenmal verstand ich, losgelöst von der Bedeutung der Wörter und nicht durch unzusammenhängende Andeutungen oder nur entfernt, sondern deutlich und vollständig, worauf sich diese bedeutungsvollen Silben beziehen. -  Aldous Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung. München 1989 (zuerst 1954)

Augenblick Sein
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