Hurerei  Speichel rann aus dem Winkel seines Fischmundes, als er mit zitternden Fingern geradewegs in Dulcys Richtung deutete.

«Ich kann Ihn sagen hören: O du Schwester des Kain, warum hast du deinen Bruder erschlagen?»

Totenstille sank wie ein Leichentuch über die schmorende Trauergemeinde. Aller Augen waren auf Dulcy gerichtet. Sie duckte sich auf ihrem Platz zusammen. Johnny starrte den Prediger mit bedrohlicher Wachsamkeit an, und die Narbe auf seiner Stirn wurde plötzlich lebendig.

Mamie erhob sich halb und rief: «Es ist nicht so. Sie wissen, daß es nicht so ist.»

Dann sprang eine Glaubensschwester in der Armenecke auf, reckte die Arme steif nach oben, spreizte die Finger und schrie: «Jesus im Himmel, hab Erbarmen mit dem armen Sünder.»

Ein Höllenlärm brach los, als die Heiligen Rollers aufsprangen und krampfhaft zu zucken anfingen.

«Mörderin», schrie Reverend Short in Ekstase.

«. . . Mörderin . . .» grölte die Kirchengemeinde.

«Es ist nicht wahr», schrie Mamie dagegen.

«Ehebrecherin», gellte Reverend Short.

«. . . Ehebrecherin . . .» widerholte die Gemeinde.

«Du verlogener Mutterficker», schrie Dulcy, die endlich ihre Stimme fand.

«Laß ihn sich austoben», sagte Johnny in seiner tonlosen Stimme. Sein Gesichtsausdruck war hölzern.

«Wollust und Hurerei», schrie Reverend Short.

Bei dem Wort Hurerei wurde alles wahnsinnig.

Heilige Rollers warfen sich zu Boden. Schaum stand ihnen vor dem Mund. Sie rollten und schlugen um sich, schrien: «Hurerei . . . Hurerei ...»

Männer und Frauen rangen und rollten. Bänke wurden zersplittert, der Saal dröhnte, der Sarg bebte. Ein großer Gestank nach schwitzenden Körpern stieg auf. «Hurerei . . . Hurerei . . .» gellte die Versammlung in ihrer Ekstase.

«Ich mach, daß ich hier rauskomme», sagte Dulcy und stand auf.

«Setz dich», befahl Johnny, «diese Menschen sind in ihrem Wahn gefährlich.»

Der Organist begann den Refrain zu Roberta Lee auf dem Harmonium zu spielen und versuchte die Ordnung wiederherzustellen, und ein großer, fetter Speisewagenkellner stimmte mit hohem Tenor an:

«Diese Welt ist hoch
Diese Welt ist niedrig und weit
Diese Welt ist tief
Doch der längste Weg, den je ich lief,
War der, den ich ging und weint' ...»

Die Gedanken an den langen Weg brachten die Ekstatiker wieder zur Besinnung und auf die Beine. Sie klopften ihre Kleidung ab, rückten verlegen die zerbrochenen Bänke zurecht, und der Organist ging zu Roll, Jordan, Roll über.  - Chester Himes, Fenstersturz in Harlem. Reinbek bei Hamburg (rororo thriller 2348, zuerst 1959)

 

Sünde Unzucht Genuß

 

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