Himbeersaft  Adela maß den Vater mit einem Blick voll grenzenloser Verachtung und sagte, zur Mutter gewandt, mit erregter Stimme, während sie unwillkürlich Tränen des Zornes vergoß: »Er nimmt uns den ganzen Saft weg! Trägt alle Flaschen mit dem Himbeersaft fort, den wir zusammen diesen Sommer eingekocht haben! Er will ihn diesen nichtsnutzigen Pumpern zum Trinken geben. Und als Draufgabe überschüttet er mich noch mit Frechheiten.« Adela schluchzte kurz auf. »Dieser Feuerwehrhauptmann, dieser Räuberhauptmann!« rief sie und maß den Vater mit einem haßerfüllten Blick. »Überall wimmelt es von ihnen. Am Morgen, wenn ich um die Semmeln gehen will, kann ich die Tür nicht aufmachen. Natürlich sind zwei von ihnen auf der Schwelle im Flur eingeschlafen und verrammeln den Ausgang. Auf der Treppe, auf jeder Stufe liegt einer im Messinghelm und schläft. Sie drängen in die Küche, stecken ihre Kaninchengesichter in den Messingbüchsen durch den Türspalt, pfeifen auf zwei Fingern wie Schulbuben und winseln flehentlich: Zucker, Zucker... Sie reißen mir den Eimer aus der Hand und sausen um Wasser, tanzen um mich herum, machen Männchen und wedeln unaufhörlich mit den Schwänzen. Dabei blinzeln sie jedesmal mit den roten Lidern und lecken sich abscheulich die Lippen. Ich brauche nur den einen oder anderen kurz anzublicken, schon schwillt ihm das Gesicht in schamlosem rotem Fleisch auf wie einem Truthahn. Und denen unseren Himbeersaft geben ...«

»Deine gemeine Natur«, sagte der Vater, »besudelt alles, was ihr unzugänglich ist. Du hast ein Bild dieser Söhne des Feuers gezeichnet, das deines kleinlichen Geistes würdig ist. Was mich betrifft, gehört dem unglücklichen Geschlecht der Salamander, den armen, enterbten Feuerwesen, meine ganze Sympathie. Die ganze Schuld dieses herrlichen Feuergeschlechts besteht darin, daß es sich in den Dienst der Menschen gestellt hat, daß es sich den Menschen für einen Löffel voll erbärmlicher menschlicher Nahrung verkauft hat. Dafür wurde es mit Verachtung belohnt. Der Stumpfsinn der Plebs ist grenzenlos. So wurden diese zarten Wesen dem tiefsten Verfall, der endgültigen Verworfenheit preisgegeben. Was Wunder, daß ihnen die Kost, diese fade und ordinäre Kost, von der Tertia der städtischen Schule für sie und die städtischen Arrestanten gemeinsam in einem Kessel zubereitet, nicht schmeckt? Ihr Gaumen, dieser zarte und geniale Gaumen der Feuergeister, verlangt nach edlem und dunklem Balsam, nach aromatischem und buntem Fluidum. Deshalb wird in jener feierlichen Nacht, wenn wir alle, freudig und festlich gestimmt, im großen Saal der städtischen Stauropigie an weißgedeckten Tischen sitzen, in jenem Saal mit den hohen, hellerleuchteten Fenstern, die ihren Glanz in die Tiefe der Herbstnacht werfen, während die Stadt ringsum in tausend Illuminationslichtern schwirrt — deshalb wird jeder von uns mit Pietät und mit jener Feinschmeckerei, welche den Söhnen des Feuers eigen ist, eine Semmel in den Pokal mit Himbeersaft tauchen und langsam von dieser edlen und dicken Flüssigkeit schlürfen. Auf diese Weise wird die innere Sicherheit der Feuerwehrmänner gestärkt und der Reichtum der Farben erneuert werden, den dieses Volk in Gestalt von Feuerwerken, Raketen und bengalischen Feuern von sich schleudert. Meine Seele ist voll Mitleid mit ihrem Elend, mit ihrem unverschuldeten Niedergang. Wenn ich aus ihrer Hand den Säbel des Hauptmanns entgegengenommen habe, so lediglich in der Hoffnung, daß es mir gelingen wird, dieses Geschlecht dem Verfall zu entreißen, es aus der Erniedrigung hinauszuführen und über ihm die Standarte einer neuen Idee zu entfalten.«   - Bruno Schulz, Die letzte Flucht des Vaters. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966

 

Saft Himbeere

 

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