Gleichgewicht, gestörtes  »Alles ist möglich in der gnostischen Sphäre, Sie verstehen? Jederzeit. Es gibt eine asketische Gnosis, die die Absage an die We!t predigt, die Abtötung des Fleisches, die absolute Spiritualität. Und es gibt eine Gnosis, die zwar von derselben Ablehnung der Welt ausgeht, aber zu dem entgegengesetzten Schluß gelangt: Der Körper ist unedel, das Fleisch ist, seiner Natur nach, gemein, darum ist es die Pflicht des Gnostikers, es zu besudeln und mit Füßen zu treten. Daher - verstehen Sie? - hat der Gnostiker die Pflicht, zu sündigen und sich im Dreck zu suhlen, absichtlich, im Namen seines verblendeten Glaubens, die niedrigsten und grausamsten Verbrechen zu begehen. Die Gnosis kennt nicht die christliche Hoffnung, sie ist ein Credo der Angst oder der Schwärmerei, einsamer Hysterie oder eines dumpfen kriminellen Wahnsinns. Sie läßt keinen Ausweg.«

Was für ein Ausweg? Der Kommissar meinte zu spüren, wie ihm eine Art eisiger Lähmung vom Marmorboden aus die Beine hochkroch, in die Adern und ins Bewußtsein drang. Und zugleich schien um ihn herum nichts an seinem Platz zu bleiben; das ständige leichte Flackern der Kerzen verfälschte mit seiner schwankenden blaßgelben Geometrie alle Perspektiven und jede Stabilität.

Ihn rettete das rauhe, irdisch rasselnde Geräusch der ersten Straßenbahn dieses Morgens.

»Was für ein Ausweg?« fragte der Kommissar, der, bildlich gesprochen, auf das agnostische Geräusch hin aufgesprungen war. »Die Gnostiker glauben«, und die Stimme Seiner Eminenz schwankte nun zwischen dem Tonfall der Gelehrsamkeit und dem Zittern dessen, den ein Grauen packt. »Nach der Lehre der Gnostiker war der Schöpfungsakt von Übel; und die Welt, das Universum, sind ein Irrtum. Und Gott, der Gott der Bibel, Jahwe, unser Gott, sei nur eine untergeordnete Gottheit, die das himmlische Gleichgewicht gestört hat, indem sie die Welt schuf, in der wir leben. Er ist der Schwarze Aon, der 36. Aon, dem sich der 1. Äon, Bythos der Ordner, und vor allem der 14., der Verborgene Äon, entgegenstellen, denn diesem obliegt die Aufgabe, periodisch die Schöpfung im Pleroma wieder aufzusaugen ...« Die Gelehrsamkeit milderte den Abscheu und die Empörung, und gerade die Absurdität dieser Vorstellungen nahm ihnen etwas von ihrer Blasphemie.

 »Wir haben es hier also, wie Sie verstehen werden, mit einem zerstörerischen, nihilistischen Glaubensbekenntnis zu tun, dem Abscheu vor der Schöpfung in allen ihren wunderbaren Formen. Die Sekte der Ophiten verehrte die einen Kreis formende Schlange, Ophis, das pneumatische Tier schlechthin ... dargestellt, wie es sich in den Schwanz beißt und selbst verschlingt: Symbol der Schöpfung, die sich selbst aufsaugt und vernichtet in dieser Leere, in diesem negativen und abstrakten Logos, der für die Gnostiker die höchste Fülle bedeutet.«     - Fruttero & Lucentini, Wie weit ist die Nacht. München 1989

Gleichgewicht Störung

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