egenläufigkeit
Auf einmal haben es die paar noch Dahinschlendernden und Herumstehenden eilig.
Sie, auf die es mir ankommt, wird mehr und mehr überholt, von Laufenden, Rennenden,
sich Sputenden. Das könnte ansteckend wirken. Sie dagegen läßt sich, ganz im
Gegenteil, noch mehr Zeit. Je rascher die anderen unterwegs sind, desto langsamer
wird sie, fallt entschieden zurück. Und es wird derart in der Gleichförmigkeit
der Passanten diese und jene gegenläufige Gestalt sichtbar: Ein sehr alter Mensch,
im Mantel, darunter ein Schlafanzug, lehnt jetzt an einer Hauswand, schwer atmend,
die Augen in Todesangst, sich zugleich um ein Lächeln bemühend und über den
Ansturm der Angst zu gleich verwundert den Kopf schüttelnd. Eir anderer, der
sie überholt, zeigt ihr dabei wie mit Absicht sein Profil, ein tropfnasses,
in der doch staubtrockenen Nacht. Ein Zeitungsverkäufer kommt ihr entgegen,
mit einem Exemplar der Morgenzeitung wedelnd und in einem fort ins Leere rufend:
»Der Ewige Friede ist erklärt!«, während die Schlagzeile das Gegenteil besagt:
»Das Grauen!« Und ihm folgt ein anderer
nächtlicher Rufer: »Historischer Augenblick: Erster Menschheitstag
ohne einen Toten! Rückkehr ins Paradies!«,
während die Schlagzeile, mit der er seinerseits fuchtelt, wieder vom geraden
Gegenteil kündet. Auf einer Bank am Straßenrand sitzt rauchend, mit verklärtem
Gesicht, eine schöne Frau und läßt auf einmal ein Schluchzen des äußersten Elends
hören, verstummt dann, raucht, findet zurück in ihre Verklärung, und schluchzt,
zugleich Rauch ausstoßend, von neuem los. Jemand anderer ist wohl unterwegs
zu seiner Nachtarbeit und läßt sich sehen mit seiner Aktentasche, aus der die
Thermosflasche schaut; dazu der Mantel falsch zugeknöpft, und einer der Hosenträger
über dem Mantel; dazu ohne Unterlaß, zwischen den Zähnen hervorgestoßen:
»Krepier. Krepieren sollst du. Krepiert - alle.« Und einer, der ein Parterrefenster
aufreißt und ein Teleskop in den finsteren Himmel richtet. Und einer, der in
einem Rinnstein auf dem Bauch liegt, die
Hände auf dem Rücken in Handschellen, und das Gesicht hin und her wendet, ein
fein Angezogener, in dunklem Anzug, weißem Hemd und in weißen Handschuhen -
ist das nicht der Fahrer von vorhin?; auf seinem Hintern ein Polizistenstiefel.
Und ein womöglich noch feiner Gekleideter, der im Abfall stöbert, den Arm bis
zur Achsel in der Tonne. Und die Dame im Nerzmantel und Kaschmirschal, die im
Zickzack von einer dieser Gestalten zur anderen geeilt ist und einem jeden einen
ihrer Blumensträuße zum Verkauf angeboten hat, und sich schließlich auch über
eine Mülltonne hermacht und bis zur Hüfte darin verschwindet. Und der junge
Bettler auf einer Straße ohne Gehsteig, der da hockt vor seinem handgeschriebenen
Bettelschild, die Schrift »Ich habe Hunger« ihm selber zugekehrt. Als sie ihm
einen Geldschein hinlegt, achtsam, sein Aufblick zu ihr, als kennten sie einander
seit langem, und als sei das jetzt ein unverhofftes Wiedersehen. Umgekehrt ein
anderer Bettelsmann, der gerade eine Champagnerflasche entkorkt. Und
dann noch ein dritter Bettler, der ihr, aus dem Dunkel heraus, heischend den Weg
abschneidet und den sie anherrscht mit einem halb gesungenen »Hau al Verschwinde
endlich von den Straßenecken. Und davor oder danach die Nachtwandertruppe, ein Haufen älterer Frauen und Männer:
für jede Witterung und jeden Ernstfall gerüstet, die unversehens weggerempelt
und auseinandergewürfelt wurde von einem noch viel älteren einzelnen Nachtwanderer,
in einem motorbetriebenen Rollstuhl, an dem gewaltige Jakobsmuscheln hingen
und heftig aufeinander klirrten, und dazu sein Ausrufen, ähnlich derr der Zeitungsverkäufer: »Sich nachts auf den Weg machen, heißt, sich allein auf
den Weg machen. Alles, was zu wissen ist, wird nachts herausgefunden. Alles,
was zu wissen ist, wird allein herausgefunden.« Und irgendwo, irgendwann auch
der eine, der sich mit einem Feuerzeug anzuzünden versucht hat, es dann an dem
Rücken eines an ihm Vorbeigehenden versucht, und es schließlich an einem Gegenstand,
einem Plakat? einem Karren? versuchen wird: sofortiges Lichterloh. Und jener
Schatten, geworfen auf ein Kirchenfenster von innen her, Schatten einer Statue,
der da plötzlich, als sie vorbeiging, aus dem Konturlosen auftauchte und ein
paar Schritte weiter, geradeso plötzlich, wieder verschwunden war; nichts als
das leer leuchtende Fenster. Und dann noch der besonders Abgerissene, der mitten
in der Nacht ein paar Schulkinder heimbringt, die ihm willig, ja freudig folgen,
mit Hüpfschritten. Ist so etwas denn möglich? Ja: Es ist eine Zeit, in der so
viel möglich war wie vielleicht noch nie, im Bösen und im Guten, und vor allem
im Unerhörten; geheimnisvolle Zeit, in der jetzt etwa lang vor dem Morgen der
Tauregen aus einem Baum klatscht. Und was sehe ich jetzt dort? Eine Gestrandete
auf einem Gehsteig, mehr liegend als sitzend, im eifrigen Gespräch mit einer
zwillingshaft ähnlichen Gestalt neben sich, die dann aber ein Grafflto ist,
eine Handbreit entfernt an den Gebäudesockel geschmiert. -
Peter Handke, Kali. Eine Vorwintergeschichte. Frankfurt am Main 2008
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