Fluß, steinerner  Beim weiteren Eindringen hörten sie erst ein fernes Rumoren, dann ein immer lauter und deutlicher werdendes Poltern und Prasseln, als stürzte eine Lawine aus Steinen und Felsbrocken von einem Gipfel und risse donnernd Geröll und Erdreich mit sich zu Tal. Dann gewahrten sie eine Staubwolke, ähnlich einem Dunst oder Nebel, aber im Unterschied zu einer feuchten Masse, die das Sonnenlicht getrübt hätte, glitzerten hier unzählige Reflexe,als brächen sich die Sonnenstrahlen in einem Gewimmel von mineralischen Atomen. Als erster begriff Rabbi Solomon:»Das ist der Sambatyon!« rief er. »Also sind wir unserem Ziel nicht mehr fern!«

Es war tatsächlich der steinerne Fluß, und das wurde ihnen klar, als sie an sein Ufer gelangten, betäubt von dem brüllend lauten Getöse, in dem sie kaum ihr eigenes Wort verstanden, geschweige denn das der anderen. Es war ein majestätischer Strom von Steinen und Erdklumpen, die unaufhörlich vorbeizogen, und in dieser Flut konnte man große unförmige Brocken erkennen, unregelmäßige Platten, schneidend wie Klingen, breit wie Grabsteine, und dazwischen Kies, Fossile, Baumwipfel, Klippen und große Späne. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit, als würden sie von einem heftigen Wind getrieben, purzelten Kalksteinblöcke übereinander, große Schiefersplitter türmten sich darüber, um immer dann ihren Ansturm zu mildern, wenn sie auf träge Kiesfluten stießen, während runde Kiesel, glattpoliert wie von Wasser durch ihr Dahingleiten zwischen größeren Steinen, in die Luft sprangen, mit trockenem Klacken zurückfielen und von Strudeln erfaßt wurden, die sie selbst durch ihr Aneinanderstoßen erzeugt hatten. Inmitten und über dieser Anhäufung von mineralischen Massen bildeten sich Fontänen von Sand, Böen von Gips, Wolken von Steinchen, Schaumkronen von Bimssand und Bäche von Mörtel.

Da und dort Spritzer von Alabasterglas oder Hagelschauer von Kohlen, und dann mußten die Reisenden sich das Gesicht bedecken, um nicht getroffen zu werden.

Sie ritten sechs Tage und sahen zwar, wie sich das Flußbett verengte und der Fluß allmählich zu einem Wildbach und dann zu einem Bächlein wurde, aber zur Quelle gelangten sie erst am fünften Tag, nachdem bereits seit dem dritten eine Kette sehr hoher Berge am Horizont aufgetaucht und immer näher gerückt war, um schließlich fast senkrecht über den Reisenden aufzuragen, so daß sie kaum noch den Himmel sahen, eingezwängt in einem immer enger werdenden Kamin ohne jeden Ausgang, von dem aus man hoch, hoch oben nur ein kaum schimmerndes Wölkchen erblickte, das am höchsten Gipfel jener Höhen nagte. Hier, aus einer Spalte zwischen zwei Bergen, fast einer Wunde, sah man den Sambatyon entspringen: Ein Brodeln von Sandstein, ein Gurgeln von Tuff, ein Tröpfeln von Kalkstein, ein Klackern von Keilen und Splittern, ein Kollern von sich verklumpendem Erdreich, ein Scharren und Schieben von Schollen, ein Regen von Ton und Lehm verwandelten sich allmählich in einen gleichmäßigeren Fluß, der seine Reise zu irgendeinem grenzenlosen Sandozean begann. Bis sie schließlich, nach beinahe fünf Tagen Reise durch die glühende Hitze und Nächten, die kaum Abkühlung brachten, den Eindruck hatten, daß der dumpf tosende Dauerlärm jener Flut sich veränderte. Die Strömung wurde schnelleres bildeten sich Strudel und Schnellen, die Basaltbrocken mit sich rissen, als ob es Strohhalme wären, man hörte ein fernes Donnern ... Dann, immer rascher fließend, begann sich der Sambatyon in eine Vielzahl von Flüßchen zu unterteilen,die sich in Berghänge eingruben wie die Finger der Hand in einen Schlammklumpen; manchmal drang eine Welle in eine Höhle ein und kam dann aus einer Art Felsspalte, die begehbar schien, brüllend herausgeschossen, um sich wütend ins Tal zu stürzen. Und plötzlich, nach einem weiten Umweg, den sie hatten nehmen müssen, weil selbst das Ufer durch Geröllstrudel unpassierbar geworden war, sahen sie, als sie auf ein Hochplateau gelangten, wie sich der Sambatyon - unter ihnen - in eine Art Höllenschlund ergoß und verschwand. Es waren Katarakte, die aus Dutzenden von amphitheaterförmig angeordneten Felsentraufen in einen gigantischen letzten Strudel stürzten, einen unaufhörlichen Wirbel von Granit, einen Mahlstrom von Bitumen, einen Sog von Alaun,ein Brodeln von Schist, ein Branden von Auripigment an die Ufer. Und über der Materie, die dieser Strudel zum Himmel spie, aber unten für die Augen derer, die auf das Schauspiel hinunterblickten wie hoch oben von einem Turm, erzeugten die Sonnenstrahlen auf den steinernen Tröpfchen einen riesigen Regenbogen.  - Umberto Eco, Baudolino, nach (eco)

 

Fluß Stein

 

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