Fluß, redender   Nun laß eine Reihe von Stimmen dein Gehör passieren: diese ist kreischend, diese ist faul, diese ist wütend, diese ist nachdenklich, diese ist zufällig - aber jetzt hörst du eine andere Stimme, eine vielfache Stimme, eine Polyphonie, der du unmöglich einen Namen geben kannst und der doch die Zierde eines Namens gebührt. Jetzt ist sie weich und zieht mit einer gewissen Zärtlichkeit eine Reihe von kindlichen Silben hinter sich her; jetzt bäumt sie sich auf und wird eindringlich, aber nicht überstürzt; ihr bündiger Stil ist ein wenig streng, aber von resignierter Strenge; jetzt verfolgen sich die Stimmen mit melodischer Anmut und singen dir ein Wiegenlied vor, das dich zum Schlaf, zum Entschlummern überreden könnte, zum Deklamieren mediokrer Texte einer künstlichen Passion; jetzt ist die Stimme ein Schlangengewühl zwiefacher Wonnen, giftig und tröstlich, und die Silben vermischen sich in einem bestrickenden Gewirr, einem großen phonetischen Haarschopf unzähliger Giftigkeiten; jetzt ist die Stimme tief, sie beschreibt eine Scham, und wenn man die Silben erkennen könnte, wären sie Worte von gelehrter Mehrdeutigkeit mit doppelsinnig verlockenden Vokalen, gutturalen Versuchungen. Aber natürlich wagt man nicht, irgendetwas zu verstehen, wenn es überhaupt etwas zu verstehen gibt. Jetzt rennt die Stimme wie ein gehetztes Tier und blickt zurück, um zu erforschen, ob du sie verfolgst; rennend verliert sie eine lange Reihe verformter Silben, die von der Stimme abfallen wie winzige tote Tiere. Jetzt ist die Stimme rauh und ungenau, eine mühsam buchstabierende Stimme, unterwürfig und schrill, kurze prägnante Silben skandierend - exquisit deklamiert mit scharfer und fahler Umsicht. Jetzt ist die Stimme prächtig, sie schmückt sich den Hals mit Wortamuletten, klar und sinnlos und mit großen schwierigen Tugenden bestückt. Jetzt ist die Stimme kindlich und flink, eine Stimme, die sich auszieht, und heraus kommt die boshafte Lieblichkeit eines Klümpchens unverständlicher aber anspielungsreicher Silben. Es ist viel Liebreiz in diesen Anspielungen, und die Stimmen, die nicht sprechen können, lieben es anzuspielen - auf unentzifferbare Erinnerungen, unvorsichtige Hoffnungen, programmierte   Plaudereien  -  aphonische   Silbe   gegen aphasische Silbe. Und weiter: eine Stimme, die über dir schwebt und aus der Höhe herabstürzt; und eine Stimme vor allen anderen,  die  aus der Tiefe aufsteigt - vielleicht in der zerstörten Kehle des zerfallenen Dorfs gebildet - eine pflanzliche  Stimme, eine Stimme, der du mit deinen Knien lauschst, mit deiner Scham; dann eine rauhe und außergewöhnlich langgezogene Stimme, ein schmerzloses Stöhnen, ein erstickter Hauch, die Stimme, so vermute ich, deute ich an, jener Nacht, in der du Schutz gesucht hast, du, kampfesmüder Mann, Kleinkrämer der Rasten. Und du weißt, mußt es wissen, daß alle diese Stimmen eine einzige Stimme sind, diejenige, die in alle Ritzen deines Existierens eingedrungen ist, eine Stimme, die zum Sprechen Haare, Hände, Ringe, Zähne, Bauch - und Erde, Nacht, Wasser, Flüsse und lakustrische Ruhepausen, tote Tiere, flüchtende Tiere und senkrechte Vogelflüge benützt. Wenn du es wagtest, in deinem Versteck den Katalog der Erinnerungen zu durchblättern, dann würdest du überall Spuren dieser Stimme finden: ihren akkuraten Schiedsvertrag mit dem Existieren, ihre persönliehe Grausamkeit, ihre schlaue und einschmeichelnde Konversation, ihre ständig wiederholte Rast in den unzähligen Nächten; schließlich die Stimme der Nacht - hoch, zufällig flüchtig, wiederkehrend, unausweichlich. Wenn du es wagtest, deine Hände auszustrecken und den endlosen Schatten, in dem du zu bestehen gewählt hast, anzustoßen, dann würde dieser Schatten mit verbissener Hingabe Silben buchstabieren, und du wärest der präzisen und zarten Quälerei einer Schattenstimme ausgesetzt. Wenn du dich unhöflich aber nicht gefühllos an die Nacht wendetest, dann würde dir diese bestimmt mit einem geheimnisvollen Regen weicher, warmer Sommerphoneme erwidern; wenn du mit berechneter und sparsamer Geste eben jene Klänge ansporntest, die du gehört hast und die dir im Gedächtnis verharren - den fallenden Tropfen, den zerbröckelnden Ziegel - dann würdest du bemerken, daß der Tropfen - sein rhythmisches Fallen modulierend - dir antworten kann, und die Tür, oh, wie sie sich schwankend beklagt über den Ansturm eines herrischen Winds! Vielleicht wird ein fingiertes Tier- hin-und herrennend zwischen Königsschloß und Tempel beide illusorisch - eine abgenutzte Stufe zerbrechen, und es erreicht dich eine Wolke von Geflüster, gewürzt mit Alter und Vergessen. Aber das sind dann nicht zahllose Stimmen, sondern eine einzige Stimme, unzahlige Stimmen, eine totale Stimme, die sich m den Kluften vervielfacht, an der Oberfläche der Nacht abprallt und auf dem Fluß über das Wasser springt. Der Fluß - man muß sich notgedrungen fragen, ob es nicht letztlich doch der Fluß ist - dieser bewegliche und unstete Ort - der diese sprechende Melopöe ausstrahlt, diese simultane Menge von Stimmen - jener sprechende Fluß, der so chaotisch redet und sich dabei unzähliger unvereinbarer Klänge bedient, Akzente ;und Rhythmen zersetzend und in das, was wir als »Wor e« bezeichnen müßten, unerträglich.entstellte Absichten mischend - eine tiefe und wundersame Zweideutigkeit, eine zugleich betäubende und verhaltene, schleimige und ohrenzerreißende Fülle von Klang; Eine Stimme, mein Lieber, eine einzige Stimme. Eme namenlose Stimme, obwohl es sie ohne Namen gar nicht geben kann. Eine Stimme, die dir schon immer im Munde sprach, genauso wie die Nacht dir im Munde saß.  - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
 

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