lüchtlingstreck
«Geplündert», ein ehemaliger Hornist kommt mit einem langen
Splitter aus einer Schienenschwelle als Krückstock
angehinkt, sein Instrument, unglaublich unversehrt und glänzend, über der Schulter,
«geplündert von der SS, Bruder, ja, jeder einzelne, verdammte Kartoffelacker,
und für was? Alkohol. Nicht zum Trinken, nein, Alkohol für die Raketen! Kartoffeln,
die wir hätten essen, Alkohol, den wir hätten trinken können. Es ist unglaublich.»
«Was? Die Raketen?» «Nein! Die SS, wie sie Kartoffeln
ausbuddelt!» und er blickt sich nach Lachern um. Aber keiner ist hier, der dem
Tusch und Triller seines minder feierlichen Herzens folgen mag. Sie waren Infantristen,
sie wissen zwischen den Schritten eine Prise Schlaf zu nehmen - irgendwann am
Morgen werden sie neben dem Rand der Straße niederschlagen, die Ausfällung eines
Augenblicks in der Reaktionskolonne der Straßen dieser Nacht, während das unsichtbare
Sieden neben ihnen weitergeht, der breitgesprengte Strudel
- Nadelstreifenanzüge mit auf den Rücken
gemalten Kreuzen, zerlumpte Marine- und Heeresuniformen, weiße Turbane, unpaare
oder gar keine Socken, Tattersalldressen, grobgehäkelte Schals mit Babies darin,
Frauen in Uniformhosen, die an den Knien aufgerissen sind, flohzerbissene und
bellende Hunde in Jagenden Rudeln, Kinderwagen voll hoch aufgetürmtem Kleinmobiliar
mit zerkratzten Furnieren, maßgefertigte Schubladen, die nie wieder in irgend
etwas hineinpassen werden, gestohlene Hühner, lebendig oder tot, Hörner und
Violinen in verwitterten schwarzen Kästen, Tagesdecken, Quetschkommoden,
Großvateruhren, Koffer mit Spezialwerkzeugen für Schreiner, Sattler, Uhrmacher,
Chirurgen, rosahäutige Töchter in Öl und weißen Kleidchen, blutende Heiligenbilder,
lachs- und purpurfarbene Sonnenuntergänge am Meer, Pakete, vollgestopft mit
perlenäugigen Boas, mit Puppen, die aus heftig roten Lippen lächeln, Zinnsoldaten,
eineinviertel Zoll pro Mann, bemalt in Crème, Gold und Blau, ein paar Handvoll
hundertjähriger Achatmurmeln, dereinst getränkt in Honig, dessen Süße längst
zu Staub zerfallene Urgroßväterzungen kitzelte, und dann in Schwefelsäure, um
den Zucker in Bändermustern, braun zu schwarz, in den Stein zu atzen, todlosen
Klavierübungen, gestanzt auf Vorsetzer-Rollen, schwarzbebändertem Unaussprechlichem,
blumen- und rankenverziertem Tafelsilber, facettengeschliffenen Dekantiergefäßen
aus Bleikristall, tulpenförmigen Jugendstilvasen, Perlenketten aus Bernstein
... so sind die Völkerscharen unterwegs, über offene Felder, humpelnd, gehend,
schlurfend, getragen, sich schleppend, über die Schutthalde einer Ordnung, einer
europäischen und bürgerlichen Ordnung, von der sie noch nicht wissen, daß sie
zerstört ist für immer. - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei
Hamburg 1981