Krücke

   Krücke (2)  Wer sind die Leute der Gesellschaft? Das sind Leute, die, anstatt mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, wie Störche auf einem Bein balancieren. Dies führt zu einer aristokratischen Haltung, durch die sie zeigen wollen, daß sie, gezwungen stehenzubleiben, um weiterhin alles von oben zu überblicken, den gemeinen Erdboden nur soweit berühren möchten wie unbedingt erforderlich, um im Gleichgewicht zu bleiben. Diese ermüdend egozentrische Haltung bedarf oft einer Unterstützung. Deshalb umgeben sich die Leute der Gesellschaft gewöhnlich mit einer Menge »Einbeiner«, auf die sie sich stützen - Menschen, die in Gestalt von Päderasten und drogensüchtigen Künstlern zu ihnen kommen und als Halt dienen für die unhaltbare Haltung einer Aristokratie, die damals bereits die ersten Anrempeleien der »Volksfront« zu spüren begann.

Deshalb schloß ich mich der Gruppe von Invaliden an, die in ihrem Snobismus eine dekadente, ihre traditionelle Einstellung bewahrende Aristokratie stützten. Aber ich hatte die originelle Idee, nicht wie alle übrigen mit leeren Händen zu kommen. Ich schleppte tatsächlich einen Arm voll Krücken mit! Denn eins hatte ich sofort begriffen: Es bedurfte ungeheurer Mengen von Krücken, um alledem den Anschein von Festigkeit zu geben. Ich machte die »ergreifende« Krücke, die Stütze des ersten Verbrechens meiner Kindheit, zum allmächtigen, exklusiven Symbol der Nachkriegs- zeit und erfand Krücken zur Unterstützung der bösartigen Entwicklung gewisser Gehirntumore, Krücken zum Stabilisieren verzückter Haltungen von erlesener Eleganz, Krücken, welche der flüchtigen Pose eines tänzerischen Sprungs dauerhafte Struktur verliehen, die den Eintags-Schmetterling der Tänzerin mit Nadeln feststeckten, so daß sie für alle Ewigkeit im Gleichgewicht blieb. Krücken, Krücken, Krücken über Krücken.

Ich erfand sogar eine winzige Gesichtskrücke aus Gold und Rubinen. Der gabelförmige Teil war flexibel; er sollte sich der Nasenspitze anpassen und sie hochhalten. Das andere, weich abgerundete Ende war dazu bestimmt, in der Mulde über der Mitte der Oberlippe zu ruhen. Sie war daher eine Nasenkrücke, ein völlig nutzloser Gegenstand, der bei gewissen strafbar eleganten, snobistischen Damen Anklang finden sollte, gerade so wie manche Herren ein Monokel tragen nur aus dem Bedürfnis, das sakrosankte Zerren ihres in der eigenen Gesichtshaut verkrusteten Exhibitionismus zu spüren.

Mein Krückensymbol paßte so vollkommen zu den unbewußten Mythen unserer Epoche und paßt noch immer zu ihnen, daß wir seiner nicht müde geworden sind, ganz im Gegenteil, dieser Fetisch findet zunehmend jedermanns Gefallen. Es war seltsam: Je mehr Krücken ich überall anschleppte - so daß man hätte meinen sollen, die Leute wären ihrer überdrüssig geworden oder hätten sich daran gewöhnt -, desto eher fragten alle neugierig: »Warum so viele Krücken?« Als ich meinen ersten Versuch gemacht hatte, die Aristokratie mit Hilfe von tausend Krücken aufrecht zu halten, blickte ich ihr ins Gesicht und sagte ehrlich: »Jetzt werde ich Ihnen einen furchtbaren Tritt gegen das Bein versetzen.«

Die Aristokratie zog das storchenähnlich hochgehaltene Bein noch ein wenig höher.

»Nur zu«, antwortete sie und biß die Zähne zusammen, um den Schmerz lautlos und stoisch zu ertragen.

Dann versetzte ich ihr mit aller Kraft einen furchtbaren Tritt genau gegen das Schienbein. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Dazu hatte ich sie ja auch gut abgestützt.

»Danke«, sagte sie zu mir.

»Fürchten Sie nichts«, antwortete ich, ihr im Weggehen die Hand küssend, »ich werde zurückkommen. Der Stolz auf Ihr eines Bein und die Krücken meiner Intelligenz machen Sie stärker als die von den Intellektuellen - die ich genau kenne - vorbereitete Revolution. Sie sind zwar alt, todmüde und heruntergekommen, aber die Stelle, an der Ihr Bein mit der Erde verlötet ist, ist die Tradition. Sollten Sie sterben, würde ich sofort kommen und mein eines Bein in denselben Fußabdruck der Tradition setzen, den Sie hinterlassen haben, und sogleich mein anderes Bein wie ein Storch hochziehen. Ich bin bereit und fähig, in dieser Haltung alt zu werden, ohne zu ermüden.«   - (dali)

 

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