Evakuierung   Vor ein paar Tagen wurde das Baltische Werk »evakuiert«. Vier Arbeiterfamilien wurden in einen Waggon gesteckt. Den Waggon stellte man auf eine Fahre, und die Fähre fuhr los. Ich weiß nicht, ob der Waggon gut oder schlecht auf dem Fährboot befestigt war. Man munkelt, er sei so gut wie gar nicht befestigt gewesen.

Gestern abend habe ich die vier »evakuierten« Familien gesehen. Sie liegen nebeneinander in der Leichenhalle. Fünfundzwanzig Leichname. Fünfzehn davon Kinder. Ihre Namen passen zu grausigen Katastrophen — Kusmirij Kulikow, Iwanow. Älter als fünfundvierzig ist keiner.

Den ganzen Tag drängen sich zwischen den weißen Särgen in der Leichenhalle Frauen von der Wassiljew-Insel und der Wyborger Seite. Ihre Gesichter sind fahl wie die der Ertrunkenen.

Sie weinen kaum. Wer Friedhöfe besucht, weiß, daß man bei uns auf Begräbnissen nicht mehr weint. Die Menschen haben es eilig, sie sind zerstreut, fortwährend bohren nichtige Gedanken in ihrem Gehirn.

Die Frauen bedauern am meisten die Kinder, sie legen Zehnkopekenmünzen auf die gefalteten kleinen Hände. Die Brust der einen Toten, die ein fünf Monate altes ertrunkenes Kind an sich drückt, ist ganz mit Geld bedeckt.

Ich ging hinaus. An der Pforte, in einer Sackgasse, saßen zwei gebeugte Greisinnen auf einer morschen Bank. Mit tränenden, farblosen Augen blickten sie auf einen hochgewachsenen Hausmeister, der porösen schwarzen Schnee auftaute. Dunkle Rinnsale flössen über die klebrige Erde.

Die Greisinnen tuschelten über ihren Alltagskram. Der Tischlerssohn sei zu den Rotgardisten gegangen und gefallen. Auf dem Markt gebe es vorläufig keine Kartoffeln. Ein Georgier habe sich im Hof angesiedelt und handle mit Süßigkeiten; eine Genera]stochter, ein Fräulein aus dem Adelsstift, habe er sich geangelt, trinke Wodka mit der Miliz, das Geld fliege ihm nur so zu.

Danach erzählte die eine Greisin mit dunkler Weiberrede, weshalb die fünfundzwanzig Menschen in der Newa ertrunken seien.

»Die Injinore sind alle fortgemacht aus dem Werk. Der Deutsche sagt, das Land is nu seins. 'n Weilchen haben sich die Leute rumgedrückt, dann haben sie ihr Bündel geschnürt und sind los, nach Hause. Die Kulikows, Mütterchen, wollten nach Kaluga. Die machten sich daran, ein Floß zu bauen. Drei Tage haben sie gehämmert. Der eine besäuft sich, dem ändern drückt's das Herz ab, er sitzt, denkt nach. Von den Injinören is keiner da, und das Volk, was weiß das schon. Wie das Floß fertig war, is es los geschwommen, da schied man nun. Der Fluß wurde wild, und alle miteinander gingen unter samt Frauen und Kindern. Schon haben sie die Leichen rausgeputzt, achttausend haben sie fürs Begräbnis gegeben, und was für Totenmessen gelesen werden! Alle Särge mit Glanzbrokat. Achtung haben sie dem Arbeitervolk erwiesen.«    - (babel)

Krieg


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