llipse »Sie erinnern sich, daß die Planeten - unter ihnen die Erde - keinen Kreis um die Sonne beschreiben, in dessen Zentrum sich diese befände, sondern eine Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Was befindet sich in dem anderen Brennpunkt? In  diesem zweiten Zentrum, in dem wir nichts sehen, aber wo durchaus eine Masse von großer Gewalt der Sonne das Gleichgewicht halten und die elliptische Bahn der Planeten hervorrufen muß!... Bedeutende Köpfe nehmen an, daß in den zweiten Brennpunkten der Planetenellipsen andere, für die menschliche Netzhaut unkenntliche Sonnen ihre Strahlen verbreiten. Lesen Sie darüber die Broschüre von Jean Saryer: ›Die Sonne und die andere unsichtbare Sonne, also die beiden Brennpunkte der Ellipse als Sitz zweier gleicher, in der Unermeßlichkeit verschwisterter Kräfte... zögen die Erde in konstanter Richtung an... Das andere Gestirn versendet vielleicht kalte Strahlen und leuchtet Wesen, die der Mensch nicht sehen kann.‹ «   - Maurice Renard, Die blaue Gefahr. Frankfurt am Main 1989 (st 1596, Phantastische Bibliothek 225, zuerst 1911)

Ellipse (2)  Velásquez hatte in der Tat seine Täfelchen hervorgeholt und sie mit Zahlen bekritzelt.

"Verzeihen Sie", sagte er, „Ihre Geschichte hat mich lebhaft interessiert, und ich habe mir nichts entgehen lassen. Während ich Ihrem Lebensweg folgte und sah, wie eine bewegende Leidenschaft Sie in dem Maße, in dem Sie vorwärtsschritten, auch höherhob, wie diese Leidenschaft Sie in der Mitte Ihrer Laufbahn auf der erreichten Höhe hielt und Sie auch beim Abstieg Ihres Daseins stützte - während ich dies sah, glaubte ich eine geschlossene Kurve zu erkennen, deren Ordinate mit vorwärtsschreitenden Werten auf der Abszissenachse nach einem bestimmten Gesetz zunimmt, in der Mitte der Achse fast gleichbleibt und schließlich im gleichen Verhältnis abnimmt, in dem sie zuerst zugenommen hat." 

„Wahrhaftig", sagte der Marquès, „ich hatte wohl angenommen, daß man aus der Geschichte meines Lebend eine Lehre ziehen könne, aber ich hätte nie geglaubt, daß sie sich als Gleichung fassen ließe."

„Nicht um Ihr Leben geht es hier", erwiderte Velásquez, „sondern um das Menschenleben schlechthin, um die physische und moralische Tüchtigkeit, die mit den Lebensjahren zunimmt, für kurze Zeit stehenbleibt, dann abnimmt und darin anderen Kräften gleicht und auch denselben Gesetzen unterliegt, das heißt, es geht um das bestimmte Verhältnis zwischen der Zahl der Jahre und dem Maß der Tüchtigkeit, die durch den Seelenzustand bedingt ist. Ich möchte dies gern genauer erklären. Betrachten wir den Lauf Ihres Lebens als Hauptachse einer Ellipse. Diese Hauptachse teilen wir in neunzig gleiche Teile, die halbe Nebenachse in fünfzehn gleiche Teile. Beachten Sie aber, daß die Werte auf der kleinen Achse, welche den Grad, der Tüchtigkeit bedeuten, von ganz anderer Art sind als die Teile der großen Achse, welche die Jahre bedeuten. Wie bei der Ellipse erhalten wir also eine Kurve, die zunächst steil ansteigt, kurze Zeit fast in der gleichen Höhe verweilt, um dann in dem gleichen Verhältnis abzusteigen, in dem sie angestiegen ist. Der Augenblick Ihrer Geburt ist der Koordinatenursprung, in dem x, das Lebensjahr, und y, die Tüchtigkeit, gleich Null sind. Sie werden geboren, Señor, und nach Ablauf eines Jahres beträgt Ordinate 31/10. Die nächsten Ordinaten werden nicht abermals um 31/10 anwachsen. Denn der Schritt von Null bis zu jenem Wesen, das kaum die elementaren Begriffe lallt, ist weit größer als jeder andere.

Der Mensch von zwei, drei, vier, fünf, sechs und sieben Jahren hat als Ordinate seiner Tüchtigkeit 44/10, dann 54/10, 62/10, 69/10, 75/10, 80/10; die Differenzen betragen also 13/10,10/10, 8/10, 7/10, 6/10, 5/10.

Die Ordinate von vierzehn Jahren beträgt 109/10, und als Summe der Differenzen erhalten wir in diesem zweiten Jahrsiebent nur 29/10. Mit vierzehn Jahren beginnt der Mensch erst, Jüngling zu sein, und er ist es auch noch im einundzwanzigsten Jahr; die Summe der Differenzen beträgt jedoch in diesem Jahrsiebent nur 18/10. Zwischen dem einundzwanzigsten und dem achtundzwanzigsten Jahr erhalten wir eine Differenz von 12/10. Ich möchte bemerken, daß meine Kurve lediglich das Leben derjenigen Menschen darstellt, deren Leidenschaften gemäßigt sind und deren Tüchtigkeit den höchsten Grad erreicht, wenn sie das vierzigste Lebensjahr überschritten haben und sich dem fünfundvierzigsten nähern. Da die bewegende Leidenschaft bei Ihnen, Senor, die Liebe war, muß Ihre größte Ordinate natürlich um zehn Jahre vorgerückt werden und zwischen dem dreißigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr liegen. Ihre Tüchtigkeit mußte verhältnismäßig rasch ansteigen. In der Tat fällt Ihre größte Ordinate auf das fünfunddreißigste Lebensjahr, und ich konstruiere Ihre Ellipse mit einer großen Achse von 70 Jahren. Deshalb hatte auch die Ordinate von vierzehn Jahren, die bei einem maßvollen Menschen 109/10 ausmachte, bei Ihnen den Wert von 120/10; die Ordinate von einundzwanzig Jahren betrug statt 127/10 bei Ihnen 137/10. Hingegen steigt bei einem maßvollen Menschen im zweiundvierzigsten Lebensjahr die Tüchtigkeit noch an, bei Ihnen, Senor, sinkt sie jedoch bereits ab.

Mit vierzehn Jahren lieben Sie ein junges Mädchen, mit reichlich einundzwanzig werden Sie der beste aller Gatten. Mit achtundzwanzig werden Sie Ihrer Frau untreu, was sich auf Ihrem Lebensweg sehr deutlich ausprägt; doch jene, die Sie lieben, hat eine erhabene Seele, die auch die Ihre emporhebt, und mit fünfunddreißig spielen Sie in der Gesellschaft eine ruhmreiche Rolle. Bald gehen Sie wieder auf Liebesabenteuer aus, so wie Sie es bereits im achtundzwanzigsten Lebensjahr taten, dessen Ordinate der von zweiundvierzig Jahren entspricht.

Dann werden Sie von neuem ein guter Ehemann, wie Sie es mit einundzwanzig waren, und die Ordinate jenes Jahres ist gleich der von neunundvierzig. Schließlich ziehen Sie zu einem Ihrer Vasallen, und Sie lieben ein sehr junges Mädchen, so wie Sie eines im vierzehnten Lebensjahr liebten, dessen Ordinate den gleichen Wert hat wie die von sechsundfünfzig. Ich hoffe, Herr Marques, daß die große Achse Ihres Daseins nicht mit siebzig enden, ja daß sie bis hundert gehen wird. Doch in diesem Falle wird sich Ihre Ellipse allmählich in eine andere Kurve umwandeln, die der Kettenlinie gleicht." - (sar)

 

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