alkonszene  Ich hatte mir Jean Cocteau telephonlert: «Schade, Blaise, daß du nicht mit ins Theater kommen wolltest. Ein einziger Triumph! Sarah war unerhört. Nach der Amputation des Beins hatte man wirklich geglaubt, daß es mit ihr zu Ende wäre. Jetzt hat sie ganz Paris bewiesen, daß sie nicht tot ist. Sie ist einfach ein Monstrum!»

Auch das war nicht mehr menschlich.

Sarah Bernhardt hatte die Hosenrolle des Romeo gespielt. In der Balkonszene, diesem Zwiegespräch von zwei Kindern, die von den Schwingen der Liebe emporgehoben, einander wechselseitig verrühren, hatte Sarah sich der seidenen Strickleiter, die aus Julias Fenster herabhing, genähert. Sie überquerte die Bühne des großen Theaters in ihrer ganzen Breite, nicht wie ein hingerissener junger Liebender, der den Fuß auf die erste Sprosse setzt und sich, trunken vor Leidenschaft, mühelos, auf nichts sonst achtend, zum Fenster der Geliebten hinaufschwingt, sondern wie eine Schlange, eine kriechende Larve, ruckweise in ihrem Rollstuhl, dessen Gummiräder sie mit beiden Händen vorwärtsrollte und aus dem sie sich mühsam, auf einen Stock gestützt, erhob, wobei ihr einziges dürres Greisinnenbein in dem enganliegenden Trikot und der bauschigen, kurzen Pagenhose heftig zitterte. Und diese völlig verrückte Szene war zu einem Triumph geworden mit allem, was dazugehört: hysterische Begeisterung, immer neues Herausrufen, unversiegbarer Applaus von Tout-Paris, einem Publikum von Snobs, anrüchigen Neureichen, siegreichen Generälen, Ministern und alliierten Diplomaten, die zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags nach Paris delegiert worden waren.

Ich hatte Jean Cocteau nicht ins Theater begleiten wollen, weil dieser Anblick mir ein Greuel gewesen wäre. Es war knapp nach dem Ersten Weltkrieg. Ich hatte zu viele Soldaten, die wirkliche Jugend, die Zukunft Frankreichs, die nicht wagten, ihrer Liebsten vor die Augen zu treten, auf den Gurt betten der Spitäler wortlos leiden gesehen - Gesichtsschüsse, Erblindete, Vergaste, Tuberkulöse, Arm- oder Beinamputierte, Gehirngeschädigte, Durchgedrehte.    - Blaise Cendrars, Sternbild Eiffelturm. Zürich 1982 (zuerst 1949)