»Es ist ein kleiner Ziegenbock«, sagte Zina, nachdem sie seine Hufe begutachtet hatte. »Ein Zicklein.«
»Wie freundlich von euch«, erklärte das Zicklein. »Ich habe lange darauf gewartet, endlich aus dem Käfig befreit zu werden - aus dem Käfig, in den du mich eingesperrt hast, Zina Pallas.«
»Du kennst mich?« fragte sie überrascht.
»Ja, ich kenne dich.« Das Zicklein schmiegte sich an sie. »Ich kenne euch beide, obwohl ihr in Wirklichkeit nur einer seid. Du hast deine zwei Hälften vereinigt, aber die Schlacht ist noch nicht vorbei - sie beginnt erst. Und zwar jetzt.«
»Dieses Geschöpf kommt mir bekannt vor«, sagte Emmanuel.
»Ich bin Belial«, erwiderte das kleine Zicklein in Zinas Armen. »Den du eingekerkert hast. Und der nun von dir befreit wurde.«
»Belial. Mein Widersacher.«
»Willkommen in meiner Welt!«
»Es ist meine Welt«, rief Zina.
»Nicht mehr.« Die Stimme der Ziege gewann an Kraft und Autorität. »In eurem Bestreben, die Gefangenen zu befreien, habt ihr den größten aller Gefangenen befreit. Ich werde gegen dich kämpfen, Gott des Lichts. Und ich werde dich in die tiefen Höhlen bringen, in denen es kein Licht gibt. Deine Helligkeit wird nun nicht mehr strahlen - das Licht ist erloschen oder es wird bald erlöschen. Bis jetzt war dein Spiel eine Farce, in der du gegen dich selbst gespielt hast. Wie hätte der Gott des Lichts auch verlieren können, wo doch beide Seiten ein Teil von ihm waren? Doch nun stehst du einem wahren Gegner gegenüber, du, der du das Chaos in Ordnung verwandelt hast und mich aus dieser Ordnung verbannen willst. Ich werde deine Stärke prüfen. Du hast bereits einen Fehler gemacht -du hast mich befreit, ohne zu wissen, wer ich bin. Ich mußte es dir sagen. Dein Wissen ist nicht vollkommen - du kannst überrascht werben. Habe ich dich nicht überrascht?«
Zina und Emmanuel schwiegen. »Du hast mich hilflos gemacht«, fuhr Belial fort, »mich in einen Käfig gesperrt. Aber dann hast du Mitleid mit mir empfunden. Du bist sentimental, Gott des Lichts. Und das wird dein Verderben sein. Ich klage dich der Schwäche an, der Unfähigkeit, stark zu sein. Ich bin der, der anklagt, und ich klage meinen eigenen Schöpfer an. Um zu herrschen, muß man stark sein. Die Starken herrschen über die Schwachen. Statt dessen hast du die Schwachen beschützt - du hast mir, deinem Feind, geholfen. Wir werden sehen, ob das weise war.«
»Die Starken sollten die Schwachen beschützen«, sagte Zina. »So steht es in der Thora. Es ist ein Grundsatz der Thora, ein Grundsatz von Gottes Gesetz. Wie Gott die Menschen beschützt, so sollte der Mensch die Benachteiligten beschützen, selbst die Tiere und die edleren Bäume.«
»Das widerspricht der Natur des Lebens«, erwiderte Belial, »der Natur,
die du ihm verliehen hast. So entwickelt sich das Leben nicht. Ich klage
dich an, gegen deine eigenen biologischen Prinzipien, gegen die Ordnung
der Welt verstoßen zu haben. Ja, von mir aus befreie alle Gefangenen,
laß ein Heer von Mördern auf die Welt los. Du hast mit mir begonnen, und
ich danke dir noch einmal. Aber jetzt verlasse ich dich, ich habe ebensoviel
zu tun wie du - vielleicht noch mehr. Laß mich los.« Die Ziege sprang aus
Zinas Armen und rannte davon. Zina und Emmanuel sahen ihr nach. Während
sie lief, gewann sie an Größe. - Philip
K. Dick, Die VALIS-Trilogie. München 2002 (zuerst 1981 f.)
Wer die zahllosen Schätze sucht, die er an
den Küsten der Weltteile Asien und Amerika verborgen hat, läßt eine kleine schwarze
Ziege vor sich hertrotten: in der Nähe des Ortes, wo der Kapitän seine Beute
vergraben hat, soll sie losblöken; aber keiner hat Erfolg gehabt. - Marcel
Schwob, Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe. Nördlingen 1986 (Krater Bibliothek,
zuerst 1896)
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