Wiengedicht
 

Das Wiengedicht also besteht aus zwei Zeilen: der
rechten Zeile und der linken Zeile. Von der Oper aus

betrachtet, befindet sich die rechte Zeile links und die
linke Zeile rechts; das ist ein Vorteil für beide, denn so

kann man sie nicht verwechseln. Auf den beiden
Zeilen gehen Gebäude- und Straßennamen spazieren,

die man alle kennt; insoweit ist das Wiengedicht popu-
lär- Nun gehen sie aber in Uhrzeigerrichtung spazie-

ren, und dabei offenbart sich ein Misterium - wir
versuchen es zu schildern: Um punkt zwölf, also am

von der Oper aus betrachtet oberen, d. h. südlichen
Ende der beiden Zeilen passiert mit den in Uhrzeiger-

richtung auf der links von der Oper liegenden rechten
Zeile spazieren gehenden populären Gebäude- und

Straßennamen plötzlich was Jähes - sie verschwinden;
doch ebenfalls und haargenau um punkt zwölf, also

arn südlichen oberen Ende, das der Oper haargenau
und ebenfalls gegenüberliegt, tauchen die verschwun-

denen Namen am oberen südlichen Ende der rechts
von der Oper befindlichen linken Zeile auf und gehen

seelenruhig weiter in Uhrzeigerrichtung spazieren.
Punkt sechs wiederholt sich das Gleiche, d. h. das

Entgegengesetzte, am unteren nördlichen Ende, wo
sich die Oper befindet. Da die Gebäude- und Straßen-

namen aber in einemfort in Uhrzeigerrichtung spazie-
ren gehen, ist es auch in einemfort zwölf bzw. sechs

Uhr. Für das Verschwinden und Auftauchen
gibt es etliche Erklärungen - am plausibelsten scheint der

von Connaisseuren oft beiläufig geäußerte Hinweis
auf den Ringcharakter des städtischen Gemüts zu

sein; aber auch Anspielungen auf den Volksmund,
das Riesenrad und das heliozentrische Weltbild ent-

behren nicht der Schlußkraft. Von der Ästhetik aus
betrachtet, ist das Wiengedicht eher surreal als sym-

bolisch, eher eine Erfindung aus der Türkenzeit als
aus der Wagnerzeit und eher eine Übersetzung als

eine Unterführung.

 - (pas)

Wien Gedicht

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