nbrauchbarkeit
Sein Elternhaus war niemals ein Haus der Kinder gewesen, wie es die meisten
anderen Häuser, Elternhäuser, vornehmlich in den besseren Gegenden, besseren
Luftverhältnissen sind, sondern ein furchtbares, noch dazu feuchtes und riesiges
Erwachsenenhaus, in welchem niemals Kinder, sondern immer gleich grauenhafte
Rechner auf die Welt gekommen sind, Großmaulsäuglinge mit dem Riecher für das
Geschäft und für Unterdrückung der Nächstenliebe. Georg war eine Ausnahme. Er
war der Mittelpunkt aber seiner Unbrauchbarkeit, der Schande wegen, die er für
die ganze dauernd an ihm erschrockene und verbitterte Familie immer und immer
dort, wo sie es zu verwischen trachtete, darstellte, ein entsetzlich verkrümmter
und verkrüppelter Mittelpunkt,
den sie unter allen Umständen aus dem Haus haben wollte. Er war so und auf die
infamste Weise von der Natur verunstaltet, daß sie ihn immer verstecken mußten.
Nachdem sie von der ärztlichen Kunst und von der medizinischen Wissenschaft
überhaupt bis in die Tiefe ihrer fäkalischen und viktualischen Verabscheuungswürdigkeit
hinein enttäuscht worden waren, erflehten sie sich in perfider Gemeinsamkeit
eine Todeserkrankung für Georg, welche ihn möglichst schnell aus der Welt schaffen
sollte; sie waren zu allem bereit gewesen, wenn er nur stürbe; aber er starb
nicht, und er ist, obwohl sie alle zusammen alles getan haben, um ihn tödlich
erkranken zu lassen, nicht ein einziges Mal (weder in Innsbruck, wo er ein paar
hundert Meter neben mir, durch den Innfluß von mir getrennt — keiner hatte vom
andern gewußt —, aufgewachsen war, noch später, während unserer Wiener Studien
in unserem im dritten Stock eines Zirkusgassenhauses gelegenen Zimmer) todkrank
geworden; er war unter ihnen nur immer größer und größer und immer häßlicher
und hinfälliger, immer unbrauchbarer und hilfsbedürftiger geworden, aber ohne
die Mitleidenschaft seiner Organe, die besser funktionierten als ihre eigenen
. . . Diese Entwicklung Georgs verbitterte sie, vor allem, weil sie schon in
dem Augenblick, in dem er von seiner brüllenden Mutter auf einen Eckstein des
Waschküchenbodens geworfen worden war, den Entschluß gefaßt hatten, sich für
die entsetzliche Überraschung der Geburt eines zuerst riesigen, feuchten und
fetten, dann aber, wenn auch immer größeren, so doch immer zarteren und gesünderen
unansehnlichen »Krüppelsohnes« (so rief ihn sein Vater) auf ihre Weise zu rächen,
sich zu entschädigen für ein zum Himmel schreiendes Unrecht; einer Verschwörung
gleich, hatten sie beschlossen, sich seiner, Georgs, noch bevor er, wie sie
grübelten, ihnen einen möglicherweise tödlichen Schaden durch seine bloße Existenz
zufügen konnte, und ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, zu entledigen.
- Thomas Bernhard, Das
Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohns. In: T.B., Die Erzählungen. Frankfurt am
Main 1979
Unbrauchbarkeit (2)
|
||
|
||