Totengeist, chinesischer Wu Sung zog seine schlechtesten Sachen an und schickte einen seiner Leute aus, um grobhanfencn Stoff zu einem Trauerrock, ferner baumwollene Socken, einen Trauerhut und verschiedene Opfergegenstände, wie Früchte, Süßigkeiten, Räucherkerzen, papierene Figuren, Totengeld und ähnliches zu kaufen. Alle diese Sachen ließ er nach der brüderlichen Behausung bringen. Dort stellte er von neuem eine Seelentafcl auf, setzte die verschiedenen Opfecrspeisen nebst Schalen guten Opferweins vor sie hin, hißte eine bunte papierene Totenfahne und setzte das Räucherwerk in Brand. Abends etwa in der zehnten Stunde verneigte er sich feierlich vor der Seelentafel und rief, eine Räucherkerze zwischen den Fingern haltend, also den Geist des Toten an:

»Bruder, noch weilt deine Seele nicht fern. Du warst zu Lebzeiten weich und schwach. Noch sehe ich nicht klar, wie du zum Sterben kamst. Sollte dir von irgend jemand ein Leid angetan sein, dann offenbare es mir, deinem jüngeren Bruder, im Traume, damit ich dich rächen und die Schmach abwaschen kann!« Hierauf versprengte er zu Ehren des Abgeschiedenen Wein und setzte die papierenen Opferfiguren in Brand. Dann stimmte er laut die Totenklage an. Schon auf dem Hinwege hatten ihm manche Leute durch Wehklagen ihr Beileid zum Ausdruck gebracht. Nun vollends gabs in der ganzen Nachbarschaft niemand, der nicht laut jammernd in den Trauerchor mit eingestimmt hätte. Als er die Totenklage beendet hatte, verzehrte er gemeinsam mit Ying'rl und seinen Leuten die verschiedenen Opferspeisen und Getränke. Für die Nacht hatte er zwei Schlafmatten bereitlegen lassen, eine für seine Wachtleute draußen im Hof unter freiem Himmel und eine im Haus für Ying'rl. Er selbst wählte als Lager den Platz vor dem Tisch mit der Scclcntafel des Toten. Bis Mitternacht konnte er keinen Schlaf finden, ruhelos und seufzend wälzte er sich von einer Seite zur anderen. Die Wachtleute dagegen lagen längst in tiefem Schlummer und schnarchten. Jetzt richtete er sich etwas in die Höhe und blickte umher. Halb erloschen flackerte die gläserne Totenlampc vor ihm auf dem Tisch. Er setzte sich aufrecht auf die Matte und begann ein Selbstgespräch: »Er war zu Lebzeiten so schwach und nachgiebig, ich ahne, es stimmt da etwas nicht mit seinem Tode ...« Mitten in seiner Selbstbetrachtung fuhr es da plötzlich wie ein kalter Windhauch unter dem Tisch mit der Seelentafel hervor.

Kein Körper, kein Schatten,
Kein Nebel, kein Rauch,
Ein gespenstischer Wirbel,
Ein Todeshauch.
Eisig kriechts daher,
Dringt schauernd durch Fleisch und Bein,
Finsternis lastet schwer,
Trübe der Lampe Schein.
Die Totenfahne knatternd
Läßt huschende Schatten, laufen.
Zur Decke aufwärts flatternd
Zerstiebt ein Papierschnitzelhaufen,
Vom Dunkel geborgen,
In finsterer Nacht
Der Geist des Toten
Hält mahnend Wacht.

Wu Sungs Haare sträubten sich steil aufwärts, als ihn der plötzliche eisige Hauch anwehte. Jetzt glaubte er undeutlich eine menschliche Gestalt unter dem Tisch, auf dem die Seelentafel stand, hervorkriechen zu sehen und eine Stimme zu hören, die zu ihm sprach: »Bruder, man hat mir ein Leid angetan!« Er tat einen Schritt vorwärts, um genauer hinzusehen und die Erscheinung zu befragen, da war sie verschwunden, und auch von dem eisigen Hauch war nichts mehr zu spüren. Taumelnd fiel Wu Sung auf die Matte zurück. Dann suchte er seine Gedanken zu sammeln.

›Seltsam! Es schien ein Traum und war doch nicht geträumt.‹    - Kin Ping Meh oder Die abenteuerliche Geschichte von Hsi Men und seinen sechs Frauen. Frankfurt am Main 1970 (zuerst ca. 1610, Wang Schi Tschong zugeschr.)

Tote Geister Chinese

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