Tode, fremde   Ich dachte unwillkürlich an die überfahrene Katze auf dem neuen Autobahnabschnitt, an den Toten im Schuppen neben dem Altenheim, der gerade von einer Schwester gewaschen wurde, als wir uns an einem Vormittag in den Sommerferien während eines Versteckspiels dort in der Nähe aufhielten, dann an den Eiter, der aus der Wunde an meinem Knie kam, und natürlich daran, aber davon hatte ich nur gehört, dass einer aus der Parallelklasse einem anderen mit einem Bleistift ins Auge gestochen hatte und das Auge aufgeplatzt und zusammen mit dem Kristallkörper und der darin befindlichen gallertartigen Flüssigkeit auf das Heft getropft war und auf die Bücher. Besonders schrecklich war das, weil man ein Auge nicht einfach verbinden und schon gar nicht ersetzen kann. Vergleichbar im Grunde nur mit dem Stich in die Zunge von Old Shatterhand, als er wochenlang im Zelt lag und es nicht aufhören wollte zu bluten und er nicht wusste, ob er es überleben würde und wenn ja, ob er je wieder würde sprechen können. Ich hingegen war nur gestolpert und mit dem Knie in die herausgebogene Spitze des Abtretrosts vor der Haustür meiner Großeltern gefallen. Ein anderer Junge, nicht viel älter als ich, war aufs Klo gegangen und dort tot umgefallen. Ich las seine Todesanzeige in der Turnerzeitung. In der Todesanzeige stand nicht, wie er genau gestorben war. Das erfuhr ich von anderen Jungs im Umkleideraum. Dabei ist das doch das einzig Interessante, wie jemand gestorben ist. Das möchte man wissen, weil es einem vielleicht später von Nutzen sein kann. Man kann sich dann sagen, jetzt wird es schwarz, aber danach noch einmal hell, und erst dann stirbt man, so wie man auch weiß, dass ein Ertrinkender dreimal untergeht und erst wenn er nach dem dritten Mal an die Wasseroberfläche kommt, wirklich tot ist. Denn vielleicht erscheinen uns die Toten nur deshalb so unheimlich, weil wir nicht wissen, wie sie gestorben sind. Vielleicht würden uns die genaueren Kenntnisse über den Vorgang des Sterbens viel von der Angst nehmen, die wir das gesamte Leben mit uns herumtragen, ohne uns je von ihr befreien zu können. Und gerade wenn es dann so weit ist, wenn es einem so geht wie mir im Moment, müsste man nicht immer jeden Schwindel beobachten und meinen, dass es jetzt schon zu Ende geht, sondern könnte sich einfach an die vielen anderen Toten und ihre Erfahrungen erinnern und sich zumindest ein bisschen darauf verlassen. Natürlich ist es dann doch bei jedem anders, aber in meiner Todesanzeige könnte ruhig stehen, es war gar nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte, weil er schon schwach war und oft die Träume nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden konnte und seine Erinnerungen nicht von der Gegenwart. Unangenehm war eher das Warten auf den entscheidenden Moment, weil man immer denkt, wie soll ich den denn schaffen, diesen einen Augenblick, diese Hundertstelsekunde, in der ich merke: Jetzt, jetzt, jetzt? Was soll ich da denn noch schnell denken? Oder sagen? Oder fühlen? Deshalb ist die Formulierung: Er war auf der Stelle tot, die bei besonders schrecklichen Unfällen benutzt wird, auch so wichtig, weil die Lebenden nicht glauben sollen, es gäbe ein schreckliches Ende, das sich dennoch ewig hinzieht. Dabei weiß es natürlich niemand genau. Nachdem ich die Todesanzeige des Jungen aus dem Turnverein gelesen und erfahren hatte, wie er gestorben war, fürchtete ich mich einige Wochen lang, aufs Klo zu gehen, und wenn ich ging, so traute ich mich nicht mehr abzuschließen, sondern hielt die linke Hand gegen die Tür gepresst, damit niemand hereinkommen konnte. Vielleicht hätte mir in diesem Moment ein noch strukturierterer Tagesablauf geholfen, obwohl ich ja schon die Schule hatte und den Musizierkreis, die Messdiener- und die Gruppenstunde. Zwischendurch war ich aber eben immer noch für mich und nicht in einem Sanatorium. Als ich dann im Sommer schließlich ins Sanatorium kam, da konnte mir das auch nicht mehr helfen. Selbst die anschließenden Exerzitien konnten mir nicht mehr helfen, dabei schöpfte ich in dieser Zeit noch einmal Hoffnung auf ein neues Leben. Deshalb verstehe ich jetzt auch, dass mein Vater zu Recht der Meinung war, dass es irgendwann einfach zu spät ist mit dem Leben und man selbst nur noch wenig oder gar nichts mehr dazu tun kann. Man hat das Leben einfach noch abzuleben, wie eine Murmel ausrollt, wenn sie mit Schwung von einem Sandhügel kommt. Dabei hatte ich so viel Schreckliches gar nicht gesehen und von den meisten Dingen ohnehin nur gehört. Am Palmsonntag etwa, als der Scharper nicht mehr reden konnte, weil ihn sein Vater in der Nacht zuvor mit dem Messer durch die Straßen gejagt hatte, war ich nicht aufgestellt. Und auch dass der Klassenkamerad vom Alex gestorben war, weil mit einem Mal aus allen Poren Blut kam, erfuhr ich erst viel später.  - (raf)

Tod

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