Tempel, indischer

 

 - Georges Pichard, Kamasutra-Illustrationen

Tempel, indischer (2) Ein Schießstand für fromme Inbrunst, eine Bocciabahn zum Spielen mit den Götterkindern, mit dem Sohn Shivas unterhalb der Mauer; ein theologischer Lunapark, in dem sich der elefantengestaltige Gott Ganesha mit seinem gespaltenen Huf vergnügt, der, diesen Huf als Feder benutzend, das Mahabharata aufschrieb; Schwimmbecken zur Reinwaschung; heilige Bordelle, auf deren Säulen sich die andächtigen Mystiker des erleuchtenden Geschlechts paaren, indem sie nach dem Rosenkranz des Kamasutra wechselnd beieinander liegen; Korridore, in denen Familien auf dem blanken Boden schlafen, unter den lauten Gesängen, dem rhythmischen Sprechgesang, den Melopöen, welche die offiziellen Tempeldichter zu Ehren Shivas und seiner Gemahlin Parvati komponieren; astrologische Vertiefungen, wo die winzigen neun Statuen - die sieben Planeten, Sonne und Mond - in Reih und Glied stehen, um die herum die frommen Bittsteller neunmal den-Weg des Körpers zurücklegen; Gewächshäuser mit plötzlichen Gerüchen und das träge Verweilen duftender Hölzer; tausend Säulen bilden nur einen Saal, ein Mandapa, eine Zufluchtsstätte, die sich des Nachts beim Schein der Fackeln verflüchtigt und zu einem Netz aus Schatten und Geistern vervielfältigt; hier werden Shiva und seine Gemahlin Parvati verehrt, aber diese kommt von weit her an diesen Ort, aus der Kultur des wilden Südens, bevor die Eroberer aus dem Norden anlangten: hier aber verehrte man Minakshi, die fischäugige Göttin; und diese löste sich dank der unendlichen Formbarkeit der indischen Götterwelt in dem wiederum wankelmütigen Körper Parvatis auf und ist nun die Mutter von Subrahmanyam, mit dem sie nie schwanger ging. Wie viele Menschen bevölkern Tag und Nacht den Tempel von Madurai? Vielleicht zehntausend, vielleicht zwanzigtausend. Ein unvollkommenes Viereck, jede Seite unterbrochen durch ein großes Portal, über dem die unzähligen Stockwerke aus dichtgedrängten polychromen Skulpturen schweben, die Göttermenge, versammelt und verschlungen, himmlische Parasiten, in der monströsen Mähne aus Stein, die sich über jedem Portal in die Höhe rankt, und im Inneren noch andere kleine Türme, die obsessiven Gopuram der heiligen Kunst des Südens; und immer wieder Zimmer, Durchgänge, Säle, Abstellkammern, Orte für die unruhigen Götter, und immer wieder der Lingam, das Phallus-Symbol Shivas, die Form der Gewaltsamkeit und der Fruchtbarkeit in einem, wie Shiva, der Zerstörer und Zeuger, der Schreckliche und der Müde, nicht anders als Parvati, die wie Kali »die Mutter« bleibt, diejenige, die sich nur dem offenbart, der um die Zerstörung seines eigenen Körpers zu wetten wagt, wie es Ramakrishna getan hat. Für die Unterhaltung der Götter ist gesorgt in den Mauern der Tempelstadt von Madurai: Da stehen die winzigen Metallstatuen von Shiva und Parvati, denen man es auf einer Schaukel bequem macht; und jeden Abend von sechs bis halb acht werden sie ruhig hin und her geschaukelt und darauf in einer kurzen Prozession in einen ihrer zahllosen Schlupfwinkel zurückbegleitet. Hier werden für die Götter Epen rezitiert, werden ihnen alte Märchen vorgelesen, werden den Immerwachen Schlaflieder gesungen, werden die Unsterblichen, die Zeuger und die Zerstörer, verwöhnt und verhätschelt; Kinder lernen die Gesänge, die sie als Erwachsene anstimmen werden, weil die Götter darauf warten; für die Götter pflückt man Blumen, verbrennt man duftende Essenzen; und der Gast geht mitten durch das Gekrächze der Pfauen in ihren Käfigen, der Heiligen und der Frommen. Zur Mitte der Mitten, wo die Gegenwart der Gottheit angebetet wird, hat der Fremde keinen Zutritt; aber wohin er sich auch wenden mag, zu jeder beliebigen Tageszeit umfängt ihn die schwere Atmosphäre der Heiligkeit.   - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)
 
 

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