chußwechsel    Weiter. Der Gegner ihm entgegen. Zum Erkennen deutlich. Thorstein Hoyer. Perrudja feuerte. Lachend. Seine Lippen wurden schamlos. Ducken. Verkriechen. Aufrichten. Wieder hinwerfen. Aufrichten. Zu Hein. Trotz schamloser Lippen. Niederwerfen. Ein Schuß. Vor seinen Füßen zerspellte ein Kiesel. Verkriechen. Atemlos liegen. Hoyer schlich vorwärts. Perrudja zielte. Feuerte. Er sah Thorstein Hoyer sich ans Ohr fassen. Da war der Laut einer singenden Kugel gewesen. Perrudja kroch. Thorstein hockte noch, halbgelähmt. Legte an. Viel zu spät. Nicht geistesgegenwärtig. Perrudja hinter einem Stein. Plötzlich wurde ihm die Luft klebrig und schwer. Und die Milz wurde ihm klein. Weil sich sein Blut in den Windungen des Bauches verfing, nicht wieder hinaustrat in die Herzbahn. Hein, Hein. So feuerte er sinnlos gegen die Klippen, die diesen Hoyer verbargen. Wartete mit leerer ängstlicher Milz. Thorstein mußte ohne Deckung über eine Lichtung. Er wartete. Brennende Ohnmacht. Hoyer verbarg sich. Dieser aber wartete auch. Hoyer kam nicht hervor.

Plötzlich schrie Perrudja laut: »Hein, Hein!«

Eine leise Stimme kam zurück. »Bleib auf der Hut. Ich liege. Es ist nicht schlimm mit mir.« »Hein, Hein!«

»Bleib vorsichtig. Tufsa ist tot. Sie verbirgt mich.« »Hein, Hein!«

»Ich bin beschützt. Und ziemlich warm. Und durstig.« Fleisch als Schanze.

Wenn es schlimm kommt, werden wir den Pferden den Bauch aufschlitzen müssen und uns hineinlegen — »Hein, Hein!«

Wie eine Eidechse vorwärts. Da war auch Thorstein hervor, über die Lichtung, kriechend. Perrudja schoß. Gegenschuß. Schuß. Keine Antwort. Schuß. Keine Antwort. Hoyer kroch zurück. War er verwundet? Perrudja voran. Ihm Sand in die Nase. Sprühen. Er warf sich nach rechts. Rechtzeitig genug. Ein Schuß links schlug ein. Noch ein Ruck nach rechts. Jetzt deckte ihn das tote Herz. Der Kupferleib. Das Muttertier mit schwarzer zweckloser Scham. Morgen hartgefroren wie zäher Stoff. Wie das tote Kind. Mit Tannenzapfenbrüsten im gelben Sonnenblumenwiesensarg. Wieder war es Winter. Und das Fleisch würde nicht stinkend werden einen Winterschlaf lang. Trotz des qualmig moorig warmen Bodens. Schuß. Eine Kugel zerfetzte den Pferdefuß. Man hörte Hein aufschreien. Rechter Hand Steine. Perrudja wich nach rechts. Er kam von seinem Ziel ab. Er erreichte Hein nicht. Doch drang er soweit vor, daß er in seitlicher Achse dessen Lage überschauen konnte. Er sah den Pferdeleib, herrliche Kruppe, in deren Schutz, ausgestreckt in einer Mulde, der Freund. Er sah dessen Schuhsohlen, nichts weiter. Und blieb mit wunden zornigen Augen hinter einer vorgeschobenen Klippe liegen. Legte das Gewehr an über einen Kiesel. Wartete. Wartete lange. Wurde von Minute zu Minute bereiter, frei hinauszutreten, sich erschießen zu lassen.

Die Majorität des Lebens war dem Tode hingemäht. Die Schönheit war in eine unerbittliche Sense gekommen. Ein häßlicher Rest versuchte, das Herz zum Leben bereitzuhalten. War es nicht tugendsamer, mit der Schönheit stockzähes Fleisch zu werden? Einzugehen in die Dauer eines winterlangen Schlafes ? Da sah er eine Hand hinter dem feindlichen Felsen hervorkommen. Wie zufällig. Die Hand war weiß umwickelt. Es mußte die linke Hand sein. Hoyers linke Hand. Gewiß war der Boden gärungswarm. Doch die Stunden waren Eis - Perrudjas Herz jammerte. Dann wieder sah er die weißbewickelte Hand. Im Zorn schoß er danach. Klatschend antwortete ein abge-spellter Felssplitter. Seltsamerweise antwortete Hoyer mit keinem Schuß. Dennoch mußte er kampffähig sein. Er hatte den Gewehrlauf aus einem Spalt herausstehen. Vielleicht visierte er dahinter. So nahm Perrudja den Spalt als Ziel. Schoß. Pause. Er kroch plötzlich wie auf Befehl von seinem eigenen Gewehr fort. Er ja saß auch mit dem Gesicht hinter einem ungeschützten Spalt. Links das Gewehr, rechts beobachtete er. Da kam Antwort. Seine Büchse hatte sich bewegt. Am Kolben war vom Holz abgesplittert. Er schießt sicher, dachte Perrudja. Ich will stille bleiben. Vielleicht vermutet er etwas Liebes für sich.

Man ließ ihn ohne Hunger-, ohne Durstgefühl. Kein Brot. Er bedarf dessen nicht. Kein Wasser. Er schluckt seinen Speichel. Seine Nieren stehen still. Er weiß es genau. Es will nichts aus ihm heraus. Die Patronen sind verschossen bis auf fünf. Der unbedachte Hein. Der Betrogene lud behutsam und fühlte, es könne böse enden. Fünf Schüsse waren bald getan. Er durfte nicht stundenlang untätig liegen.

Hein konnte auf den unsicheren Fluren zwischen Leben und Tod wandeln. Perrudja mußte einen schmalen Felsspalt belagern. Belauern. Wenn ihm die letzte Kugel dahin -. Das Sterben war unpathetischer als er vorauszusetzen gewillt gewesen war. Viel zufälliger. Und ohne Gesetz. Die Dichter hatten gelogen, die von den tausend Toden und von dem einen des Einzelnen sprachen. Swifts Fleischkonserven. Er konnte davon nicht essen. Fünftausend Rinder starben täglich. Ihr Blut nicht trinken. Swift, George Hamüton & Co., Ltd. Ein automatisch vorgezeichneter Tod der Zerstückung. Blechbüchsen, verzinnt. Rostige Kehrichthaufen. Die Schönheit der Welt war in der Tat nicht augenfällig. Ein zufälliges Feuerwerk der Liebe. Postulat der Liebe. Glaubensbekenntnis der Nichtkastrierten. Und die Kastrierten wurden fett und fromm. Ochsen am Wagen. Origines im Gebet. Das Himmelreich war sicherlich nicht fett und fromm. Da stieg ihm der geringe Gestank vom Schweiß seiner Schenkel in die Nase. Die Knaben nahmen ihr Geschlecht in die Hand und priesen seine Größe. Und die Halbwüchsigen vertrauten einander die Zahl der Opfer, die sie nächtlich den Frauenschößen zu bringen vermöchten. Und logen. Und waren schön mit den Schatten unter den Augen.

Wartet. Wartet. Wartet. Will endlich hervorstürzen. Da sieht er Hoyer herankriechen. Sich aufrichten. Jener naht, das Gewehr vor sich. Lacht, lacht. Sieht den Gegner liegen, ihn selbst, Perrudja, wehrlos. Was tut er? Er ist nicht barmherzig. Was für ein Wort ist das: Barmherzig. Wir sind nicht kastriert. Geilheit ist das Wort. Nebenbuhler. Mich, Nebenbuhler, schießt er nieder wie einen Hund, den man nicht leiden mag.   - Hans Henny Jahnn, Perrudja. Frankfurt am Main 1966  (zuerst 1929)